Ein Jahr in Andalusien
mir sofort sympathisch. „Lass uns in mein Büro gehen.“ Schon auf dem Weg legt sie los: „Seit etwa zwei
Jahren kommen immer mehr Deutsche in die Herberge. Letztes Jahr waren rund fünfzig Deutsche da,dieses Jahr sind es jetzt im Mai schon
fast vierzig. Sie sind mittlerweile nach Spaniern, Marokkanern, Rumänen und Bulgaren die fünfthäufigsten Besucher der Obdachlosenherberge, Tendenz
steigend“, informiert sie mich. „Gerade betreue ich zwei deutsche Männer und eine Frau. Aber es ist schwierig, ihnen zu helfen, denn sie sprechen kein
Spanisch. Außerdem sind die meisten Alkoholiker.“ Leonor erklärt mir, dass gerade nur einer in der Herberge wohnt. Dort dürfen sie nämlich nur zwei
Tage hintereinander bleiben, weil die Anfrage sehr groß ist. „Aber immer wenn ich am Abend Schicht habe und mit dem Bus losfahre, um Obdachlose von der
Straße zu holen, sehe ich sie irgendwo.“ Sie zeigt mir die Gegebenheiten – ein Männer- und ein Frauentrakt, viele Zimmer mit mehreren Hochbetten,
Gemeinschaftsbäder. Dann erklärt sie mir, wo sie die Deutschen zuletzt gesehen hat. Bevor wir uns verabschieden, sagt sie noch: „Lass uns mal zusammen
ein Bier trinken, dann erzählst du mir, wie deine Recherchen gelaufen sind.“
Am nächsten Morgen bin ich früh am Stadtmarkt von Málaga, am Mercado de Atarazanas. Dort soll nach Leonors Aussage regelmäßig ein deutsches Paar
sitzen. Und wirklich entdecke ich in einer Ecke einen Mann, der dem Äußeren nach Deutscher sein könnte. Er sitzt auf dem Boden, eine Hand hält er auf,
ab und zu schaut er den Vorübergehenden flehend in die Augen. Der Mann sieht nicht aus wie ein Obdachloser. Seine grauen Haare sind ordentlich gekämmt,
er ist frisch rasiert, Jeans und Kunstlederjacke wirken sauber. Nachdem ich ihn eine Zeitlang beobachtet habe, sage ich: „¿Es usted alemán?“ Keine
Antwort, nur ein fragender Blick. Als ich die Frage auf Deutsch wiederhole, „Sind sie Deutscher?“, sieht er mich erleichtert an und nickt. „Darf ich
sie zum Frühstücken einladen?“ Er runzelt die Stirn, überlegt dann aber nicht lange und sagt: „Ja, gern.“ Dann schiebt er hinterher: „Meine Freundin
sitzt dort hinten ...“ Wir holensie ab und bahnen uns, ohne ein Wort zu wechseln, einen Weg an den Hausfrauen vorbei, die um die
Uhrzeit in Scharen den Tageseinkauf erledigen.
Ich bestelle den beiden Kaffee und belegte Brötchen. Während sie hungrig darüber herfallen, erkläre ich ihnen, dass ich Journalistin bin und erfahren
habe, dass immer mehr Deutsche die Obdachlosenherberge in Málaga aufsuchen. Die beiden sehen mich mit großen Augen an. Einen Moment lang habe ich den
Eindruck, sie könnten mir das Sandwich ins Gesicht werfen. Doch dann sagt der Mann: „Ich bin Michael, meine Freundin heißt Petra. Wir leben seit einem
halben Jahr auf der Straße.“ Nach einer kurzen Pause fügt er an: „Dabei wollten wir in Spanien eigentlich ein neues Leben beginnen.“ Dann erzählt er
ohne Punkt und Komma, wie sie vor knapp einem Jahr nach Málaga kamen.
Petra hatte ihren Job als Sekretärin in Hamburg aufgegeben, um mit Michael in Köln zusammenzuziehen. Nach kurzer Zeit verlor er aber seine Arbeit. „Wir
kauften kurzerhand zwei Oneway-Tickets nach Málaga. In Deutschland sah alles so düster aus. Da dachten wir, in Spanien kann es nur besser werden“, sagt
Michael. „Ich habe Stahl- und Betonbauer gelernt und im Kölner Arbeitsamt hatte ich kurz vor unserem Abflug ein Stellenangebot in Alicante
gesehen. Deshalb dachte ich, es sei einfach, in Spanien Arbeit zu finden. Aber leider war das nicht der Fall. Nach ein paar Monaten ging uns das Geld
aus. Wir kauften ein billiges Zelt und übernachten seitdem am Strand. Irgendwann reichte das Geld aber auch nicht mehr zum Essen. Deshalb müssen wir
betteln, fast zehn Stunden täglich.“
Michael macht eine Pause. Während der ganzen Erzählung hat seine Freundin den Blick starr auf den Boden gerichtet, die strähnigen Haare fallen ihr ins
Gesicht, so dass ich ihre Augen nicht erkennen kann. Jetzt hebt sie das ersteMal den Blick. „Die ersten Tage habe ich mich überhaupt
nicht getraut, zu betteln. Und ich zucke immer noch zusammen, wenn mir jemand was in die Hand wirft. Aber wir sind auf die Almosen angewiesen“, sagt
sie und blickt wieder zu Boden. „Unser Zelt stellen wir am Ende des Stadtstrandes auf. Jeden Morgen um sechs klingelt der Wecker, dann packen wir alles
zusammen und machen uns auf den Weg in die Stadt“, fährt
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