Ein Jahr in Andalusien
meisten bezahlen. Aber heute ist der Platz leer. Nur ein paar Väter und Mütter der künftigen Matadore stehen neben uns und
schauen ihren Sprösslingen beim Kämpfen zu. Auch Jaime, der Cousin, ist da. Er freut sich über das unerwartete Interesse seines Verwandten am
Stierkampf. Mein Freund zeigt auf mich. „Das ist ihre Schuld.“
Der kleine Jaime trainiert auf der Plaza de Toro mit zwanzig weiteren Jungs und zwei Mädchen für eine Karriere als Torero, als Stierkämpfer. Er ist der
Einzige, der einen eleganten, eng anliegenden „Traje de Campo“, einen Landanzug, trägt. Die anderen haben einen Trainingsanzug an. „Für Jaime ist der
Unterricht der Höhepunkt der Woche. Er besteht immer darauf, sich als echter Matador zu verkleiden.“ Jaime ist mit fünf Jahren der jüngste der Novizen,
der nächstältere, Juan Antonio, ist elf. Die beiden Jüngsten üben immer zusammen, einer ist der Stier, der andere der Torero. Von einem echten Toro ist
in der Schule weit und breit keine Spur. Nur die Älteren trainieren ab und zu mit jungen Kühen.
Die Kampfstiere dürfen den gelben Sand der Arena nicht betreten, bevor es ihnen an den Kragen geht. Denn bei einem einzigen Kampf lernen die Stiere,
wie der Ablauf der Corrida de Toros funktioniert, und sie können dem Matador sehr gefährlich werden. Der erste Kampf des Stiers ist deshalb immer auch
sein letzter.
Jaime hat sich ein paar Hörner geholt. Er hält sie sich über den Kopf, macht einen Buckel, wird zum Stier. Juan Antonio ist der Töter. Mit langsamen,
bedachtenBewegungen lässt er den Stier Jaime auf sich zukommen, um ihn dann mit einer geschickten Hüftdrehung in das rote Tuch laufen
zu lassen. „Sprecht mit dem Stier!“, ruft der Lehrer. „Für einen guten Matador ist es Voraussetzung, die Psyche des Stiers zu kennen.“ Jaime schnaubt,
schart mit dem Fuß im Sand.
Die Provinzverwaltung Málaga hat die Stierkampfschule erst vor ein paar Jahren eröffnet, erzählt Cousin Jaime. Wer will, kann sich einschreiben, es
gibt keine Aufnahmeprüfung, die Stunden sind umsonst. „Die Zeiten haben sich geändert“, sagt ein älterer Mann, der neben uns sitzt und unser Gespräch
verfolgt hat. „Früher wurden nur die Allerbesten Stierkämpfer. Mit ein bisschen Wille und Anstrengung schafft das heute jeder.“ Er erzählt uns, dass er
fast immer in die Arena kommt, wenn die angehenden Toreros trainieren. Es erinnere ihn an seine Jugend. „Vor mehr als vierzig Jahren war es mein großer
Traum, Matador zu werden. Doch die Schulen waren teuer, die Konkurrenz groß. Nach ein paar Jahren musste ich aufgeben und einen ‚anständigen‘ Beruf
ergreifen, um mein Geld zu verdienen.“ Heute schwelge er in Erinnerungen, wenn er Jaime und den anderen zusieht.
Nach dem Training frage ich den kleinen Jaime, ob ihm der Stier nicht leidtue. Er schüttelt nur gelangweilt den Kopf. Überhaupt nicht! Die Frage ist
für ihn absurd. Ich wittere eine Geschichte. Es dauert nicht lang, da habe ich Vater und Lehrer überzeugt: Beim nächsten Training darf ich mit Kamera
und Notizblock auf der Tribüne sitzen und auch selbst mal die Hörner in die Hand nehmen und mich wie ein Stier fühlen.
Es ist fast acht, als wir uns auf den Weg zu unserem Wochenendausflug machen. Jaime hat die hinteren Sitzbänke in meinem Bus
ausgebaut, eine Matratze und zweiBettlaken ausgelegt. Freudestrahlend präsentierte er mir das Ergebnis: „Unser Bett!“ Wir fahren in
Richtung Marbella, an dem Meer aus Hochhäusern an der Costa del Sol vorbei. Die Abendsonne legt einen malerischen Schleier auf die Kulisse. Das
Autoradio hat gerade die Frequenz eines englischsprachigen Rocksenders gefunden.
„Als ich klein war, habe ich in Marbella an einem Strandkiosk gearbeitet“, erzählt Jaime. „Damals gab es noch naturbelassene Sandstrände an der Küste,
und sie war noch lange nicht so verbaut. Das ist keine zwanzig Jahre her.“ Er seufzt. „Aber der Tourismus und das Baugeschäft haben uns natürlich auch
viel Geld gebracht.“ Der Großteil der Malagueños arbeitet auf dem Bau oder in der Tourismusbranche. Auch Jaimes Firma profitiert von den Neubauten, wo
er elektrische Leitungen verlegt und die Brandschutzanlagen einbaut. Die wenigsten Andalusier stellen die urbanistische Entwicklung an ihren Küsten in
Frage, viele verbringen ihren Urlaub sogar selber in einer der zehnstöckigen Bettenburgen.
„Ich bringe dich heute an einen Strand, der ist genauso schön wie die Küste damals vor zwanzig Jahren“,
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