Ein Jahr in Australien
nicht wiedererkannt. Als Wiedergutmachung musste ich ihm meine Telefonnummer geben, was zur Folge hatte, dass ich plötzlich zweimal verabredet war. Mit Christine würde ich mich zum Lunch in der City treffen und mit Grünauge irgendwann später auf einen Drink in Surry Hills. Das war ungewöhnlich, und gut. Denn nach zehn Tagen ohne den Nomaden wurde ich leicht seltsam. Zum Beispiel führte ich Selbstgespräche. Das war eigentlich nicht schlimm, hörte ja keiner, aber inzwischen hatte ich das Gefühl, mir alles Wichtige gesagt zu haben. Sozialkontakte waren also dringend nötig.
Christine hatte ich kennen gelernt, als ich, ermutigt durch den Besuch bei Surfer-Rick, noch mal die Variante „Mitbewohner gesucht“ ausprobiert hatte. Ihr freies Zimmer war zwar deutlich größer als Naomis Futonlager, aber leider wohnte sie fast in Rose Bay. In einer schönen Gegend am Hang, aber zu weit weg von meinem geliebten Wellenparadies. Geplaudert hatten wir trotzdem lange, viel gelacht ebenfalls, und offensichtlich hatte sie ihr „Ruf doch mal an und erzähl, wenn du was gefunden hast!“ nicht höflich, sondern ernst gemeint. Auf jeden Fall waren meine Beinahe-WG-Partnerin und ich für später im Hyde Park in der Innenstadt verabredet. Ich freute mich darauf und pfiff als Variante zum Selbstgespräch an der Bushaltestelle vor mich hin.
Der Fahrer grinste breit. „Hi darling, come on in, how-are-you-today-love?“ War ich dem nun auch schon mal irgendwo begegnet? Nein, das konnte wirklich nicht sein. „Zweisiebzig macht das, thanks“, addierte er, was mich daran erinnerte, dass ich gerade in einen Bus gestiegen war. Ah ja, genau – Fahrgeld. Darling how are you? Ich zählte die Münzen auf die Kasse und murmelte: „Danke, gut, äh, great!“ Undnun noch ein bisschen besser. Darling! Mir war völlig egal, ob der Fahrer das nun genau so meinte oder anders oder einfach gute Laune hatte. „Love“ hatte ich schon länger nicht gehört.
Beim Lunch erzählte ich Christine von meinem reizenden Start in den Tag. Wir hatten uns mit Sandwiches und Kaffee unter den riesigen Feigenbäumen im Park ausgestreckt. Gleich nebenan war die Behörde, in der sie arbeitete, das „Lands Titles Office“, ein stattlicher Sandsteinbau mit Erkern, Zinnen und Türmchen. Vor der Kulisse der glitzernden und überwiegend modernen Hochhäuser der Innenstadt wirkte ihr Gebäude überraschend alt und ehrwürdig. Und Christine selbst sah in ihrer Bürokluft – schwarzer Anzug, weiße Bluse – ebenfalls sehr offiziell aus. Um ein Haar hätte ich sie nicht wiedererkannt. Ihr ausgelassenes Lachen allerdings, kombiniert mit einem geträllerten „Oh my God“ zur Begrüßung, war unverwechselbar. Dann rollte sie mit den Augen und lachte schon wieder. Meine neue Bekannte war Australierin in vierter Generation und vermutlich schon deshalb meist fröhlich. Zugleich aber hatte sie auch eine scharfe Zunge. Und mit der machte sie sich, angeregt von meiner Hi-love-Anekdote, über Lisa her, ihre miesepetrige neue Mitbewohnerin. Lisa, erzählte sie, war klein, rundlich, kam aus England und war davon überzeugt, dass sämtliche Busfahrer Sydneys hinter ihr her waren. Weil sie lächelten, „darling“ und „love“ sagten. „Nicht zum AUS-halten die Kerle!“, imitierte Christine johlend Lisas Busfahrerwahn. Ich grinste. Der Fahrer heute früh trug eine coole Surfersonnenbrille, war Mitte zwanzig, groß, blond, und garantiert nicht auf der Jagd. Der war so wenig hinter mir her wie hinter der angeblich dauermuffeligen Lisa. Der war einfach guter Laune. Australische Leichtigkeit trifft schwermütige Europäer. Das konnte ja nicht gut gehen. Chris kicherte: „Aber weißt du, was das Beste ist?“ Nein, wusste ich nicht. „Neuerdings gehtLisa zu Fuß. Aus lauter Paranoia ob all ihrer neuen Verehrer! Ihrer Figur bekommt das ausgesprochen gut …“ Wir prusteten. Lästern mussten offenbar auch reizende Australier manchmal.
Erst recht, so sagte Christine, machten sie sich zuweilen über „Poms“, die Neuankömmlinge aus dem Mutterland, lustig. Zwar stammte die Mehrheit aller Australier nach wie vor von den Britischen Inseln. Sie akzeptierten die englische Monarchin als Staatsoberhaupt und konnten sich nicht von ihrer Flagge mit britischem „Union Jack“ trennen. Die Neuen jedoch, jene, die „frisch vom Schiff“ kamen, blieben mindestens eine Generation lang „Poms“ oder liebevoller „Pommies“. So hießen sie, klärte mich Chris weiter auf, weil sie
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