Ein Jahr in Australien
Briefkasten hatte folglich eine gefühlte Aktualität von etwa übermorgen.
Als ich mit der „Streiflicht“-Kolumne fertig war, standen wir immer noch am Strand. Irgendwas stimmte da nicht. Ich reckte den Hals. Die Touristinnen hatten inzwischen vorne einen Stadtplan ausgebreitet. Der Fahrer mühte sich zu erklären, wie sie am besten wo auch immer hinkamen. Ein reizender Versuch, aber aussichtslos – der Faltplan war voll japanischer Schriftzeichen und die Mädels verstanden keine Silbe Austraaalijan . Ich wurde ungeduldig, Hilfsbereitschaft war ja eine prima Sache, aber gar so lange musste er ja nunauch wieder nicht Mister Nice Guy sein, oder? Bis sechs, hatte ich Rob am Telefon versichert, könne ich es bis Surry Hills schaffen. Ich sah auf die Uhr, rutschte auf meinem Sitz hin und her und drehte mich um. Kopfschüttelnd, mich räuspernd, nervös, und zwar als Einzige. Alle anderen im Bus lasen, tippten Texte in Telefone, dösten, träumten oder quatschten gelassen weiter. Ich benahm mich zweifellos deutsch: ungeduldig und keine Spur „easy going“.
Am Einkaufszentrum stiegen vier Jugendliche in gelbblauen Schuluniformen aus. Die letzten zehn Minuten hatten sie jede nur mögliche Handygebühren-Variante diskutiert. Und mich so beiläufig über sämtliche neuen Tarife informiert. Als sie ausstiegen, bedankte allerdings nicht ich mich. Vielmehr riefen die Schüler in den karierten Blazern und gelben Krawatten: „Thanks“. Dazu winkten sie beim Aussteigen per Arm Richtung Fahrer. Ich stutzte: Machten die sich über die Stadtplan-Pause am Strand lustig? Kichernde, laute und hyperaktive 13-Jährige kannte ich reichlich. Zynische Teenies hingegen waren mir hier noch nie begegnet. Ich wunderte mich immer noch, als kurz darauf in Paddington vor einem Café zwei ältere Damen ausstiegen. Laut und deutlich hörte ich, wie sie „thank you, driver“ sagten. In der Reihe vor mir stand wenig später ein Herr mit Aktenkoffer und zu viel Gel im Haar auf. Ich spitzte die Ohren und – da war’s! Auch er murmelt ein „Thanks“ in Richtung Windschutzscheibe, woraufhin der Fahrer lässig zum Gegengruß den kleinen Finger vom Lenkrad hob. Tatsächlich: In diesem Land bedankten sich Fahrgäste bei Busfahrern für – ja, wofür eigentlich? Dafür, dass er sie gefahren hatte. Oder einfach so. Weil sie freundliche Menschen waren. Und – wieso auch nicht? Verließ ich ein Taxi, murmelte ich ja auch meist artig mein „schönen-Dank-auch“. Und das, obwohl die Fahrten teurer waren, ich den Weg oft erst erklären musste und mir angesichts des Bremsstils der meisten Chauffeure am Endeübel war. Wieso also nicht dem Busfahrer danken, der den Weg ohne meine Hilfe fand und außerdem so nett war?
Wir zockelten vorbei an den kleinen Mode-, Schuh- und Designläden der Oxford Street, lang war die Fahrt vielleicht, aber nicht langweilig. Ich beschloss, auch die Dankeschön-Angewohnheit zu übernehmen, und probierte in Gedanken schon mal: „Thank you, Sir.“ Hm, vielleicht doch eher ein saloppes „Thanks, mate “? Es soll ja leicht und flüssig kommen. Waren Busfahrer wohl auch „mates“? Am liebsten wollte ich klingen, als hätte ich mein Leben lang nichts anderes getan, als mich bei Busfahrern für die schöne Zeit mit ihnen zu bedanken. Endlich waren wir am Abzweig nach Surry Hills. Ich schob die kostbare Zeitung in die Tasche und drückte die Stopp-Taste. „Thanks, mate“, beiläufiges Handheben, Sprung auf die Straße. Puh, geschafft. Ich lächelte vor mich hin, das ging doch eigentlich schon ganz gut.
Rob saß oben auf der großen Veranda des „White Horse“-Pubs beim zweiten Lemon-Lime-und-Bitter. Mit hochgezogener Braue fragte er mich, wie um Himmels willen ich es ausgehalten habe, von Bondi bis Surry Hills fast eineinhalb Stunden zu brauchen. Rob fuhr Auto. Öffentlicher Nahverkehr war für ihn etwas komplett Absurdes, so als würde man ihn zu einer Kreuzfahrt auf einer Galeere einladen: eng, endlos, heiß, laut und unkultiviert – eine Strafexpedition, fand er, fast so schlimm wie damals 1788, als die ersten Schiffe Kriminelle wie Vieh nach Neusüdwales transportierten. Mein Surfbekannter hatte noch mehr gruselige Fantasien parat. Das lag aber vor allem daran, dass er zuletzt vor über zwanzig Jahren in einen Bus gestiegen war. Und zwar irgendwo in Indonesien, nicht in einem dieser voll klimatisierten Gefährte mit Passagier-Höchstzahl-Begrenzung, die zwischen Bondi Beach und Circular Quai pendelten. Sicher,
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