Ein Jahr in Australien
Bevölkerung sprach angeblich zu Hause Chinesisch. Und nicht nur die, sondern auch Einwanderer aus Korea, Japan, Taiwan und Vietnam sorgten dafür, dass die Asien-Ecke der Innenstadt hübsch exotisch war. Allein wegen des unvergleichlichen Geruchs musste ich jedesmal in eine der „Herbalist“-Kräuter-Apotheken gehen und an möglichst vielen Tüten, Knollen und Gläsern riechen. Da ich keine der Aufschriften oder Rezepte entziffern konnte, ging ich anschließend stets mit einer Knolle Ingwer und einem Beutel Grünem Tee nach Hause, das konnte man immer brauchen. Meine Besucher waren von den fremden Schriften, Düften und asiatischen Souvenirs ebenso begeistert. Ein „Chinatown“ gab es weder in Hamburg noch Berlin, und wir stöberten stundenlang in den Läden voller roter Lampions und Laternen nach Kitsch und kuriosen Souvenirs. Wir bewunderten feine Tusche-Pinsel und Schriftrollen mit garantiert klugen Botschaften, rochen an Heilbalsamtöpfen, probierten, wie uns bestickte Seidenpantoffeln und lackierte Papierschirme standen.
Mit einem Miniatur-Mah-Jongg-Spiel und dreiGlücksbringermünzen zogen wir ab. Das Wichtigste hatten wir schließlich noch vor uns: Essen, in diesem Fall hatte ich für „Yum Cha“ im Marigold plädiert. Mich hatte das beim ersten Mal gut gesättigt und zugleich wunderbar verwirrt. Ich hoffte, das würde auch für die zwei ein Erlebnis sein. An den riesigen runden Tischen des Lokals, das mir groß genug für zehn chinesische Hochzeiten zu sein schien, wimmelte es vor Leuten. Wir warteten, bis ein langer, dünner Kellner mit Überblick uns in eine freie Ecke führte. Minuten später standen Bestecke, Stäbchen, Gewürze und Tee auf dem Tisch, dann wurde uns fast schwindelig vor Gerüchen und der Qual der immer neuen Auswahl. Yum Cha auf Australisch hieß: zwischen klappernden Tellern, wild durcheinanderrufenden Kellnern und schlagenden Türen lauter Kleinigkeiten zu essen, von denen wir kaum je erfahren würden, wie sie hießen. Die Geräuschkulisse schwoll mit jedem neuen Gast an. Permanent kurvten Kellnerinnen mit doppelstöckigen Buffetwagen aus der Küche und steuerten sie durch die Tischreihen. Die Gäste hielten die Augen auf, warteten und bedienten sich an den vorbeifahrenden Spezialitäten: Dim Sum in Bambuskörbchen, geröstete Hühnchenflügel in gelber Soße, Miniatur-Frühlingsrollen, gedünstete Gemüsetaschen, nach Minze duftenden Fleischbällchen, knusprige Fischstücke und fremd aussehende Köstlichkeiten. Kein beschauliches Mahl war das, eher eine Art rauschende Schlacht, jedenfalls für Neulinge wie uns. Wir erprobten unsere Risikobereitschaft und entdeckten Geschmacksnerven, von denen wir nicht einmal wussten, dass wir sie hatten. Fast erschöpft standen wir eine Stunde später auf der Straße und atmeten die Abendluft ein. Mona fand als Erste die Sprache wieder. „Ich komm mir vor“, seufzte sie auf dem Rückweg nach Bondi, „als sei ich nochmal um die halbe Welt gereist.“
November
„Solange der Jasmin nicht richtig duftet, ist auch nicht wirklich Frühling“, hatte mich Jenny vor einigen Wochen aufgeklärt. Süßlich und stark und schwer müssten die Blüten riechen. Dann sei auf jeden Fall der Winter überstanden und der Sommer fast da. Wir gingen mit dem Handtuch über der Schulter durch die Ramsgate Avenue. Der Sprung in den zur Abwechslung wellenfreien Pazifik hatte uns aufgeweckt, und ich erinnerte Jen an ihre Jasmin-Theorie: „Da ist jetzt aber mehr als nur Jasmin in der Luft, oder?“ Sie gab mir recht. Akazien, Oleander und Eukalyptusbäume blühten, die Büsche in den Gärten hingen noch immer voll roter Zylinderputzer, oder wie die Australier sagten: „bottlebrushs“, und über Zäune rankten gelbe Kletterpflanzen, deren Namen ich nicht kannte. Sie dufteten zwar nicht so intensiv wie der Jasmin, aber sie sahen nach Ferien aus und machten gute Laune. Die konnte ich gebrauchen, denn mir saß noch der Abschiedskater vom Vortag in den Knochen.
Meine Besucher waren nach ihrer Rundreise durch die glücklicherweise heißen Regionen des Kontinents noch für eine Woche in Sydney gewesen. Dann mussten sie zurück in den deutschen Herbst. Natürlich hatte mich dabei das Ende-der-Welt-Gefühl überfallen. Dafür sorgte schon der lange Gang am internationalen Terminal, den ich insgeheim „die Heulschleuse“ getauft hatte: die kahle Zone vor dem Zoll, die Reisende von Bleibenden trennte. Sicher flogen hier auch Passagiere ab, die nur kurz zum Skifahren nach
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