Ein Jahr in Australien
irgendeinen dahergelaufenen Gaul, sondern um Phar Lap, eine Legende, ein Mythos, ein Wundertier, über das Bücher geschrieben wurden und das mehrfach gemalt worden war. Kein Scherz: Ein Phar Lap in Öl hing zwischen Premierministern und Cathy Freeman in Australiens Nationaler Porträtgalerie in Canberra. Grund für den Status als Landesheiliger war, dass der Vollblüter besonders viele besonders wichtige Rennen in besonders schweren Zeiten gewonnen hatte. Und jung starb. So eine Art James Dean des Turfs. Gezüchtet worden war das Tier in Neuseeland, weshalb dort sein Skelett die letzte Ruhe fand, und ums Leben kam es unter mysteriösen Umständen nach einem spektakulären Sieg in Kalifornien 1932, was Australiens Pferdefreunde den Amerikanern bis heute nicht ganz verziehen hatten. Den Melbourne Cup übrigens gewann Phar Lap nur ein einziges Mal.
Wenn also an diesem Dienstag besagte vier australische Leidenschaften – Pferde, Wetten, Feiern und Sport – zusammenkamen, war es vermutlich nur logisch, dass die Stimmung besonders ausgelassen war. Denn natürlich begnügte sich niemand damit, dem Rennen live oder im Fernsehen zuzusehen. Jeder hatte gewettet, gesetzt und getippt, privat oder offiziell, bei den Buchmachern oder in Tipprunden mitKollegen, Freunden, den Nachbarn an der Theke. Schließlich ging es nicht nur um Helden mit Hufen, sondern auch um Geld, für manche um viel Geld. Die Pferde waren so teuer wie eine Villa mit eigenem Strand, Yacht, privatem Anleger und Blick aufs Opernhaus. Und die Einsätze lagen je nach Wettfieber und Kontostand zwischen fünf Dollar und fünfstelligen Summen.
Überflüssig zu erwähnen, dass wir uns an diesem Dienstagabend nicht trafen, um unsere Wiederbelebungstechniken zu verfeinern. Mir war das nur recht. Stattdessen machte ich mich mittags auf zu einer der vermutlich tausend Cup-Partys, die die Innenstadt den Nachmittag über auf Trab hielten. Meine war ein Lunch von Victorias Tourismus-Agentur und hatte insofern immerhin etwas mit dem Ort des Geschehens zu tun. Der Busfahrer verfolgte per Kofferradio die Übertragung von der Rennbahn in Melbourne. Ich überlegte kurz, ob ich vorschlagen sollte, um die Ankunftszeit zu wetten. Inzwischen war ich wirklich neugierig, vor allem weil ich keinen Schimmer hatte, was genau passieren würde, und ob ich etwas Besonderes würde tun müssen. Jen hatte gesagt: „Just relax, honey, enjoy!“ Dann war sie mit mir ihren Kleiderschrank durchgegangen. Dank einiger rasanter Leihgaben in Hellgrün, Gelb und Orange würde ich ausnahmsweise nicht mal durch unpassende Kleidung auffallen. Obwohl ich ihren Hut mit dem Hauch eines Schleiers zuletzt doch zu Hause gelassen hatte.
Die Tourismusbehörde spendierte Kollegen und Journalisten Häppchen und Champagner in einem mediterran angehauchten Bistro. Wir aßen, tranken und schwatzten wie auf anderen Stehpartys auch. Mit dem Unterschied, dass wir hin und wieder abwechselnd auf die Uhren und zwei große Bildschirme starrten, auf denen Vorabrennen, Wettquoten und die bestgekleideten Damen von der VIP-Tribüne in Melbourne-Flemmington gezeigt wurden. Ich bestaunteFarbenfreude und Federn der anderen Frauen im Lokal, die weder Aufwand noch Fantasie gescheut hatten. Insgeheim dankte ich Jen noch einmal für ihre keine Widerrede duldende Aktion. Ohne sie wäre ich vermutlich in Schwarz gegangen. Undenkbar! Heute war bunt Trumpf, je greller, desto toller!
Und natürlich wettete ich, wer am schnellsten rennen würde. Mit den anderen Gästen, mit den Kellnern im Lokal, mit jedem, der wollte, ich hatte längst den Überblick verloren. Ich musste an die Statistik denken, laut der Australier jede Woche mehr Geld bei Glücksspiel und Wetten verloren, als sie für Benzin ausgaben. „Gambling“ gehörte zum Glück nicht zu meinen Süchten. Aber an diesem Tag war es unterhaltsam, vor allem weil jeder augenzwinkernd so tat, als sei er schon immer ein alter Profi in Sachen Pferderennen gewesen. Wir aßen noch mehr Häppchen und tranken noch mehr Champagner. Und schließlich war es kurz vor drei, und der Startschuss fiel. Wir hielten kollektiv den Atem an und unsere Wettscheine fest umklammert, starrten auf den Schirm, und Sekunden später war alles vorbei. Es wurde gejubelt oder mit den Zähnen geknirscht, Quoten und Zahlen und Prozente schwirrten durch den Raum. Ein paar Leute verließen mit ihren Wettscheinen eilig das Lokal, um in den TAB-Büros an den staatlichen Wettschaltern ihre Gewinne einzustreichen. Und
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