Ein Jahr in Australien
Neuseelandwollten, zum Baden nach Bali oder zum Hals-Nasen-Ohren-Kongress nach Singapur. Aber mir kam es vor, als flöge von hier eigentlich fast jeder für ewig lange fort, und zwar so weit weg wie eben möglich. Die zahlreichen roten Augenpaare und dunklen Sonnenbrillen, die einem von der Passkontrollen-Absperrung entgegenkamen, sprachen für meine Theorie. Die Heulschleuse war ein spezifisches Australien-Phänomen, das es in Rom oder München einfach nicht gab. Eines, das untrennbar mit dem Ganz-weit-weg-Status des fünften Kontinents verbunden war. Mona und Bernd fanden das auch. Wer von Sydney nach Europa flog, den sah man normalerweise nicht so bald wieder. Wir gaben uns Mühe, die Stimmung mit ein paar Scherzen zu heben. Bernd meinte, ich sei den ewigen Regen hier unten ja eh bald leid und käme zurück nach Hamburg. „Gute Idee“, lobte ich, „spätestens wenn man auf der Elbe surfen kann.“
Dann waren sie weg. Der Express und ich knatterten zurück nach Bondi. Es war ein traumhaft klarer Nachmittag, warm, leichter Wind, über den Horizont zog sich eine hübsche Kette winziger, weißer Wolken. Auf meinem Schreibtisch wartete eine spannende Recherche über Australiens Designer-Nachwuchs. Und wenn ich die Isobaren auf der Wetterkarte richtig gedeutet hatte, waren sehr interessante Wellen in unserer Richtung unterwegs. Der einzige größere Fehler dieses ansonsten so gelungenen Kontinents war wirklich, dass er ein paar Tausend Seemeilen zu weit von den anderen entfernt lag.
Zum Glück gab es Jen und ihren unerschöpflichen Vorrat geselliger Ideen, die mich auf andere Gedanken brachten: Wir würden am Wochenende ein Picknick am Lotusteich im Centennial Park veranstalten, verriet sie mir auf dem Weg zum Frühstückskaffee. Außerdem sei nächste Woche Melbourne Cup. Wieso mich ausgerechnet die Tatsache, dass am Dienstag knapp zwei Dutzend Pferde in Melbourne im Kreisliefen, aufheitern sollte, war mir unklar. Meine Nachbarin lachte nur kopfschüttelnd eine ihrer höheren Tonleitern und meinte dann: „Wart’s ab, you’ll love it.“ Wie üblich hatte sie recht, vor allem aber kam ich aus dem Staunen kaum wieder raus.
Der Melbourne Cup war ein Pferderennen, das jedes Jahr am ersten Dienstag im November in Melbourne stattfand. Das war seit 1861 so und weder Wirtschaftkrisen, noch Unwetter oder Kriege hatten daran etwas ändern können. Der Melbourne Cup setzte nicht aus. Nicht ein einziges Jahr. Wohl aber setzte an diesem Tag in Australien in gewisser Weise etwas aus. Während im Bundesstaat Victoria, also dort, wo die Pferde rannten, schon die Woche vor dem Ereignis ein feierseliger Ausnahmezustand herrschte, begnügte sich Sydney damit, den Tag selbst in einer Art rauschenden Taumels zu verbringen. Firmen machten spätestens mittags dicht, Behörden verteilten großzügig freie Überstundentage. „Weil sonst ohnehin jeder Zweite einen sickie nimmt“, erklärte mir Christine, wobei „sickie“ für „sick day“ stand und krank feiern bedeutete. Wer seinen Laden nicht dicht machen konnte, arrangierte die Arbeit zwischen vielen gekühlten Getränken rund um den Fernsehschirm.
Schon morgens lag eine aufgekratzte, nervöse Stimmung in den Straßen. Frauen gingen – wenn sie denn überhaupt gingen – statt im dunklen Blazer in gepunkteten Kleidern, tief ausgeschnittenen Spitzentops und mit Federn besetzten Hüten zur Arbeit. Männer sahen so aus, wie sie immer aussahen, nur ihre Hosentaschen beulten sich vor Wettscheinen.
Und all diese Aufregung nicht etwa, weil Queen Elizabeth sich entschlossen hätte, nach Canberra zu ziehen, oder weil ein Ultraschallflugzeug die Strecke Sydney-Paris auf dreieinhalb Stunden verkürzt hätte. Nein, das Fieber verursachten sehr schnelle Pferde, auf denen sehr kleine Jockeys exakt 3200 Meter weit um die Wette ritten.
Erklären musste man dazu vielleicht, dass Australier traditionell zu vier Dingen ein extrem inniges Verhältnis hatten: Glücksspiel, Feiern, Sport und Pferde. Letztere konnten Heldenstatus erlangen und zu Kultfiguren werden. Mal ehrlich: Gibt es ein anderes Land auf der Welt, in dem ein Pferde-Herz in einem staatlichen Museum der Hauptstadt ausgestellt wird? Nicht in einem Naturkundemuseum, nein, in einem landesgeschichtlichen. Das Skelett desselben Tieres befand sich in Neuseeland hinter Glas und sein ausgestopfter Körper in einem Melbourner Museum. Ein einziges totes Pferd, verteilt auf drei Museen in zwei Ländern. Natürlich handelt es sich nicht um
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