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Ein Jahr in London

Titel: Ein Jahr in London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Regeniter
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–in den Müll wirft, oder Angehörige der adligen Oberschicht gaben ihren Bediensteten in grauer Vorzeit an diesem Tag Geschenke in Schachteln oder in Kirchen wurden am Fest des heiligen Stefanus traditionell Kästchen für Armenspenden aufgestellt.
    Ich selber entwickele die Theorie, dass der Name wahrscheinlich daher stammt, dass man den ganzen Morgen damit verbringt, Truthahnfleisch in Plastikbehälter zu füllen, um es dann einzufrieren. Denn mit unserem Truthahn verhält es sich ähnlich wie mit der wundersamen Vermehrung von Broten und Fischen: Obwohl wir am Vortag alle neun kräftig zugelangt hatten, scheint der Vogel eher noch gewachsen zu sein. Und somit gibt es dann natürlich auch zum Mittagessen noch mehr Truthahn. Truthahn mit Pommes diesmal.
    Am Nachmittag besucht Eileen ein paar entfernte Verwandte, die nicht wichtig genug waren, sie am Weihnachtstag zu besuchen, während Elli und ich unterdessen den Zug in die Innenstadt nehmen, wo am Boxing Day der Winterschlussverkauf beginnt.
    Ich fühle mich gleich ganz zu Hause in Englands so genannter „zweiter Stadt“: Mit ihrer Mischung aus 70er-Jahre-Architektur und hypermodernen Glasbauten könnte man sich in jeder beliebigen Ruhrgebietsstadt in Deutschland befinden. Wir schieben uns von Geschäft zu Geschäft, während Elli alle ihre Geschenke umtauscht.
    Über einer Tasse Glühwein kommen wir auf dem German Xmas Market mit einigen jungen Mancunians , wie man die Bewohner der Stadt nennt, ins Gespräch.
    „Ihr wohnt in London? Ist es da nicht sehr gefährlich?“, fragt ein etwa 20-jähriger Student ehrfurchtsvoll.
    „So weit südlich wie London bin ich noch nie gekommen“, fügt sein Freund hinzu. Seine Augen strahlen bei der Erwähnung der Hauptstadt halb bewundernd, halb verachtungsvoll. Ebenso wie die Londoner meist geringschätzig vom Norden ihres Landes sprechen, äußern die beiden sich abfällig über den Süden, doch gebrochen ist dies durch den Traum, es doch auch irgendwann mal in London zu etwas zu bringen. In London zu wohnen ist für sie ein Zeichen, es geschafft zu haben. Elli und ich baden noch eine Weile in dem Gefühl, Menschen von Welt zu sein, und fahren dann wieder nach Hause.
    Auch Eileen ist wieder von ihren Besuchen zurückgekehrt.
    „Hallo Mum, was hast du denn da in der Tüte?“
    Eileen packt einige Plastikbehälter aus. Ich kann es schon fast erraten.
    „Ich konnte doch nicht nein sagen, das wäre unhöflich gewesen.“
    „Aber Mum, der ganze Kühlschrank und die Gefriertruhe sind schon übervoll von Truthahn, und da bringst du noch mehr mit? Dir ist wirklich nicht zu helfen.“
    „Aber dieser ist mit Speck eingeschnürt und schmeckt ganz anders als unserer. Willst du mal probieren?“
    Die gleiche Frage stellen wir am nächsten Tag bei unserer Rückkehr nach Primrose Hill Felice, der ganz begeistert ist von seinem verspäteten Weihnachtsgeschenk.
    „Ach, dass ihr so viel Essen extra für mich aufgehoben habt! Womit habe ich das verdient? Sag deiner Mama ganz viele Thanks!“

Januar
    Der Trafalgar Square ist der Mittelpunkt Londons und Mittelpunkt der Welt. Ersteres besagt eine Plakette auf dem Platz und Letzteres, meint meine Kollegin Maddie, folgt daraufhin logischerweise. Und so machen wir uns also am Silvesterabend auf zum Trafalgar Square, um zur Jahreswende direkt am Zentrum des Weltgeschehens zu sein.
    Maddie, Felice und seine zahlreichen sizilianischen Bekannten und ich sitzen also von acht Uhr abends an in einem gemütlichen Pub gleich um die Ecke des Platzes. Oder besser gesagt: Wir stehen in einem gemütlichen Pub, denn schon jetzt ist es überall so voll, dass es unmöglich wäre, einen Tisch zu finden, der groß genug für unsere vielköpfige Gruppe wäre.
    „Und was passiert auf dem Trafalgar Square dann am Silvesterabend?“, frage ich Maddie. „Gibt es Feuerwerke wie in Deutschland?“
    Sie schüttelt den Kopf: „Man steht herum, zählt die Sekunden bis Mitternacht, und feiert ausgelassen.“
    Ich bin entzückt. Da die Engländer jegliche Aussicht auf eine Party in vollen Zügen auskosten, werden wir mit Sicherheit einen schönen Abend haben.

    Von den berühmten Londoner Plätzen wie zum Beispiel Oxford und Piccadilly Circus ist der Trafalgar Square der schönste – unter anderem weil er der einzige ist, der nicht zu einer riesigen Verkehrsinsel degradiert wurde. Seit einigen Jahren kann man ihn nur noch von der Südseite umfahren, die Nordseite gehört ganz den Fußgängern. So hat man von der

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