Ein Jahr in London
hat.
Glücklicherweise wird es in England als höflich angesehen, den Teller nicht ganz leerzuessen, denn wer selbst den letzten Krümel aufputzt, ist entweder unverschämt gierig oder zu arm, sich sonst viel Nahrung leisten zu können.
Es fällt also nicht übermäßig auf, dass ich nur einen Löffel esse und dann auf meinen arg überfüllten Magen Rücksicht nehme.
Und dann ist es schon Zeit für die Bescherung. In England kennt man weder das Christkind noch den Nikolaus, sondern die Geschenke werden von Father Christmas gebracht, einem alten Mann mit Rauschebart und sehr schlechtem Zeitgefühl, denn die Geschenke werden oft schon Wochen vor dem Fest gleich nach ihrem Kauf unter den Weihnachtsbaum gelegt. Wie man da den Kindern noch weismachen soll, dass es tatsächlich der Weihnachtsmann war, der sie angeblich durch den Kamin hereingebracht hat, ist mir ein Rätsel.
Neben den obligatorischen Socken bekomme ich gleich zwei Flaschen Parfum mit Veilchenduft, so dass ich von nun an auch ganz authentisch englisch riechen werde.
„Ah“, sagt Grandpa dann, nachdem er sich eine seiner neu erstandenen Zigarren angezündet hat, „es ist fast Zeit.“
Zeit wofür? Selbst nach fast sechs Monaten in England sprachen die Einheimischen für mich oft noch in Rätseln.
Wie auf ein geheimes Kommando hin erhebt sich einer nach dem anderen und bewegt sich wie unter Hypnose zum Sofa. Dann wird der Fernseher angemacht. Es ist kurz vor drei. Vielleicht folgt eine weitere Eastenders -Episode?
Aber nein: Die Queen hält ihre jährliche Ansprache!
Nanny, Grandpa und Eileen starren gespannt den Bildschirman, die anderen gähnen gelangweilt, während Elli demonstrativ ein Magazin in die Hand nimmt und darin liest.
„Und nun unsere Royal Highness, Queen Elizabeth II“, kündigt der Nachrichtensprecher mit festlicher Stimme an.
„Habt ihr schon gehört, mit wem Robbie Williams seit neustem ...“
„Jetzt halt doch mal den Mund“, fährt ihre Mutter sie an.
„Jedes Jahr das Gleiche“, stöhnt Elli, als nach ein paar Minuten alles vorbei ist.
„Das war ja noch deprimierender als sonst“, fügt Rachel hinzu.
Ihre Oma andererseits ist fast zu Tränen gerührt. „Kein Wunder nach all den Unglücken, die wir im letzten Jahr hatten. Aber wie schön sie das doch ausgedrückt hat.“
Die beiden Daves rollen mit den Augen, während Grandpa seine kaum noch offen halten kann.
„Aber dass sie Charles’ und Camillas Heirat nicht mal ...“, fällt Elli ihrer Mutter ins Wort.
„Wen interessiert schon, ob die beiden geheiratet haben oder nicht, meinst du nicht, es ist wichtiger, die Hunderttausende von Tsunami-Opfern zu erwähnen?“
„Ach, jetzt spiel dich nicht als große Wohltäterin auf, sie hätte es doch nur in ein paar Worten einfügen können.“
Innerhalb von Minuten weitet sich die Diskussion in einen Streit aus und Eileen rennt mit Tränen in den Augen aus dem Zimmer und fängt an, in der Küche polternd herumzuhantieren.
Na, das ist ja ganz wie bei uns, denke ich mir und freue mich insgeheim.
Grandpa unterdessen hat von dem Ganzen nichts mitbekommen, denn er ist mittlerweile im Tiefschlaf versunken und seine Frau nahe dran, ihm zu folgen. Es ist gerade mal halb vier.
Maud und Dave verabschieden sich bald, während wir anderen vier die alternative Weihnachtsbotschaft, in diesem Jahr von dem Fernsehkoch Jamie Oliver, anschauen. Die alternativeWeihnachtsbotschaft wird extra für Monarchie-Gegner wie Elli ausgestrahlt und jedes Jahr von einer anderen britischen Berühmtheit verkündet.
„Und für das kommende Jahr wünsche ich mir, dass alle britischen Kinder in ihren Schulen täglich gesunde, ausgewogene Mahlzeiten erhalten werden.“
„Yeah, yeah, was auch immer“, kommentiert Dave und schaltet zum nächsten Kanal um, auf dem „die Alternative zur alternativen Weihnachtsbotschaft“ gesendet wird. Allmählich werde auch ich etwas müde.
Um kurz nach neun wache ich wieder auf. Im Fernsehen läuft eine alte Schwarz-Weiß-Schnulze, während die anderen noch vor sich hindämmern.
Jetzt ist Weihnachten fast überstanden. Das heißt: Zuerst heißt es natürlich erst einmal, den zweiten Weihnachtstag, oder besser gesagt Boxing Day, zu überstehen.
Woher das Wort Boxing Day stammt, ist umstritten. Einig sind sich alle nur darüber: Mit Boxveranstaltungen hat es nichts zu tun. Eileen bietet mir folgende Erklärungen zur Auswahl: Boxing Day ist der Tag, an dem man die ganzen Geschenkkartons – eben Boxen
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