Ein Jahr in London
Popkultur ist für die Engländer ihr wahrer Halt im Leben: England und Popkultur gehören so eng zusammen wie Wien und Mozart oder Rom und die Antike. Selbst die Namen der englischen Flughäfen deuten darauf hin: Während in Italien Flughäfen nach Künstlern wie zum Beispiel Leonardo da Vinci benannt werden und im eher seriösen Deutschland Politiker geehrt werden – so gibt es in München den Franz-Josef-Strauß-Flughafen oder den Konrad-Adenauer-Flughafen in Köln/Bonn –, wurde der Liverpooler Flughafen vor ein paar Jahren in John Lennon Airport umgetauft und eine Statue des früheren Beatle in der Abflughalle aufgestellt. Und ist in Hollywood angeblich jede zweite Kellnerin Schauspielerin, spielt in London jede Kellnerin in einer Band.
Und so ist es heute Abend wie jeden Dienstag brechend voll, und Jung und Alt zerbrechen sich die Köpfe über solche Fragen wie „Wie heißt das letzte Wort im Refrain von Cliff Richards Hit Move it aus dem Jahre 1958?“.
Der Engine Room sieht aus wie das Wunschschlafzimmer eines jeden Teenagers: Es ist dunkel und eng, die Wände sind von der Decke bis zum Boden mit Musikpostern vollgekleistert und auf den alten Holztischen tropft von den in Weinflaschen steckenden Kerzen langsam das Wachs herunter. Zu Beginn des Abends geht Quizmaster Ian durch die Tischreihen, sammelt ein Pfund Teilnahmegebühr ein und notiert die Gruppennamen der Quizteilnehmer. Wir sind die Primrose Hillbillies .
Pünktlich um halb acht wird die Hintergrundsmusik abgestellt, das Mikrofon des Quizmasters rauscht und knackst, und dann begrüßt er uns und stellt den heutigen Preis vor: ein Freigetränk für jedes Mitglied der zweitplatzierten Gruppe und fünfzig Pfund für die Sieger. Aber mehr als um die Preise geht es um unsere Ehre.
„And now the best of luck to all of you!“
„Wir müssen es doch einmal schaffen, nicht Letzte zu werden“, sagt Elli entschlossen. Eigentlich bringen wir die besten Vorraussetzungen mit: Ich bin 80er-Jahre-Experte, Liam kennt sich bestens mit Hiphop und Dance aus, seine Mutter kennt jede Zeile aller Lieder, die jemals in den 1960ern geschrieben wurden, und Elli ist großer Punk- und Glam-Rock-Fan. Wir müssten also ohne Probleme gewinnen, doch die anderen Quizteilnehmer sind uns trotz allem immer noch um einiges Wissen voraus.
„Wie hieß die Single der Spice Girls, die sich am schlechtesten verkaufte, und wie viele Exemplare wurden verkauft? Ein Punkt für jede Antwort“, ist die erste Frage am heutigen Abend.
Wir schauen uns verzweifelt an. Die Gruppe neben uns, bestehend aus einer alten Frau, deren grauen Haare einen leichten Blauton aufweisen, ihrem noch älteren Mann und zwei Mädchen um die achtzehn waren in der vorigen Woche die Sieger. Bevor der Quizmaster auch nur die Frage zu Ende gelesen hat, hat die alte Frau schon begonnen zu schreiben. Sie flüstert lächelnd mit ihrem Mann und ich versuche verzweifelt, die Antworten von ihren Lippen zu lesen, doch sobald sie meinen Blick sieht, verstummt sie schnell und schaut in die andere Richtung.
„Liam?“ Seine Mutter schaut ihn fragend an, doch er schüttelt frustriert mit dem Kopf.
„Keine Ahnung. Mit den Spice Girls kenne ich mich nun wirklich nicht aus.“
Von mir und Elli gar nicht zu reden. Und bevor wir Zeit haben, uns irgendeine Antwort auszudenken, kommt schon Question Number Two , und dann folgt ohne Erbarmen eine Frage nach der anderen und ehe wir uns versehen, ist die erste Runde schon zu Ende und unser Antwortzettel fast leer, während die Alleswisser neben uns sich triumphierend beglückwünschen. Nach einer kurzen Pause, die dem Quizmaster und den Teilnehmern die Chance gibt, eine weitere Runde Getränke an der Bar zu bestellen, geht es weiter mit der Bilderraten-Runde. Jede Gruppe erhält eine Schwarz-Weiß-Kopie mit Kinderbildern von berühmten Popstars, die meisten von so schlechter Qualität, dass man bis auf ein paar graue Schatten so gut wie nichts erkennen kann.
„Das ist eindeutig Madonna“, Elli zeigt auf einen hellen Klecks auf dem Papier.
„ Rubbish . Das ist David Bowie“, meint hingegen Liam. Seine Mutter stimmt für Nina Simone und ich für Paul McCartney. Als Kompromiss entscheiden wir uns für Michael Jackson. Die anderen Fotos sind ähnlich kontrovers, so dass beim Beantworten an vielen Tischen hitzige Debatten ausbrechen.
Das Auswerten der Antworten dauert seine Zeit und um zehn Uhr sitzt der Quizmaster immer noch mit Stirnrunzeln in der Ecke des Pubs und rechnet
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