Ein Jahr in London
ihr denn mit dem Kochen angefangen, das sind ja ganze Unmengen an Essen hier?!“, frage ich.
„Vor drei Monaten“, antwortet Eileen, und man sieht ihr an, dass dies der Wahrheit entspricht.
Mir wird die Aufsicht über den Blumenkohl und die Steckrüben zugeteilt, von denen sich ein ganzes Feld in der Küche angesammelt zu haben scheint. Kohl und Rüben sind neben dem Truthahn der Hauptbestandteil des englischen Weihnachtsmahles, so dass eine große Bürde auf mir liegt. Wenn meine Zubereitung schiefgehen sollte, wird es wahrscheinlich ähnlich wie bei Eastenders bald einen Mord am Tisch geben.
Nun, viel kann man ja beim Kohl- und Rübenkochen nicht falsch machen, denke ich mir, und so stecke ich die geschnittenen und mit Öl beträufelten Rüben zum Truthahn in den Ofen, während der Blumenkohl nach zehn Minuten Kochzeit schon gar ist. Ich stelle den Herd ab und will gerade den Kohl in ein Sieb gießen, als Jackie mich brüsk zurückschiebt.
„Was machst du denn da? Was ist los mit dem Kohl?“
„Er ist gar. So gar, dass er fast zerfällt.“
„Nichts da, das kann doch nicht sein.“
Sie tut sich einen Rosenkohl auf eine Gabel und schiebt ihn sich in den Mund.
„Ach was, der ist ja noch halb roh, das kann unsereiner ja gar nicht verdauen.“
Also wird alles wieder in den Topf zurückverfrachtet und köchelt weiter vor sich hin.
Ich sehe zu, wie alles zerfällt und weiter und weiter zerfällt, bis von dem Kohl nur noch ein dicklicher, grüner Brei übrigbleibt.
„Darf ich ihn jetzt ausgießen?“
„Nein, nein, ein paar Minuten braucht der noch.“
Irgendwann ist dann aber tatsächlich doch alles fertig, und es wird zu Tisch gebeten.
Während wir als Vorspeise Lachs essen, wundere ich mich, was es mit den kleinen Paketen auf sich hat, die überall auf dem Tisch herumliegen. Ich nehme eines prüfend in die Hand und gucke es mir näher an. Es sieht aus wie ein in Geschenkpapier eingepacktes Röhrchen, das an beiden Enden wie ein Bonbon zugeschnürt ist. Vielleicht ist es die Nachspeise. Ich fahre auf, als Jackie plötzlich zupackt und mir das Röhrchen aus der Hand zu reißen versucht.
Ich bin schockiert. Erst habe ich fast den Blumenkohl ruiniert, jetzt habe ich offensichtlich gegen eine mir unbekannte Etikette verstoßen, indem ich es gewagt habe, diese merkwürdigen Riesenbonbons zu berühren. Was hat die alte Frau nur gegen mich?
Dann plötzlich ein riesiger Knall. Ich schreie auf, und irgendetwas saust durch die Luft. Fast stoße ich vor Schreck den Truthahn vom Tisch, aber Rachel fängt ihn gerade noch auf.
„Yes, time for crackers !“, rufen die beiden Daves unisono.
„Crackers?“
„Knallbonbons! Sag nicht, du hast noch nie einen Cracker gesehen!“
Jetzt fangen auch die anderen an, jeweils zu zweit an den Crackers herumzuziehen, bis sie mit einem lauten Knall zerplatzen und dann ein kleines Papier, eine Plastikfigur und buntes Krepppapier herausfliegen.
Bei dem Krepppapier handelt es sich um bunte Kronen, die sich alle reihum aufsetzen.
„Anna hat noch keine Krone, komm, hier ist noch ein Cracker .“
Ich lasse also auch noch einen krachen, und Elli setzt mir die rosarote Krone auf, die sich darin befindet. Mit unseren lächerlichen Papierhütchen, bis auf Eileen und Jackie alle schon leicht angetrunken, bilden wir eine merkwürdige Tischgesellschaft.
Die nächste halbe Stunde verbringen wir damit, unsere Überraschungsei-ähnlichen Plastikfiguren zu vergleichen und die Witze vorzulesen, die sich in den Crackers befanden.
„Was isst ein Schneemann zum Frühstück? Schneeflocken!“, Grandpa brüllt vor Lachen, während seine Frau die Sektgläser in immer kürzeren Abständen nachfüllt.
Als schließlich der Truthahn aufgetragen wird, kann ich mein Messer kaum noch gerade halten, und es macht mir gar nichts mehr aus, dass der Blumenkohl für zehn Minuten oder zehn Stunden gekocht worden ist. Es schmeckt alles herrlich. Selbst die Preiselbeersoße auf dem Fleisch.
Wir essen und essen, während dem einen oder anderen die Kreppkrone langsam in die Augen rutscht.
Dann, als ich gerade denke, es gehe nun wirklich nichts mehr rein, erscheint Eileen mit dem Weihnachtspudding. DerName Pudding ist irreführend, denn es handelt sich um sättigenden Kuchen voll mit Nüssen, Früchten und Rosinen, der mit Sherry flambiert und dann mit einer Brandy-und-Sahne-Soße serviert wird. Was alles sehr lecker ist, wenn man nicht kurz vorher einen halben Truthahn und zehn Steckrüben gegessen
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