Ein Jahr in London
Nelson’s Column jetzt im Norden freien Blick auf die beeindruckende National Gallery und die Kirche St Martin’s in the Field.
Als die letzte Stunde des Jahres näherrückt, drängen wir – zusammen mit Tausenden anderer Londoner – zur Mitte des Platzes. Der Uhrzeiger des Glockenturmes von Big Ben, der auf einer großen Leinwand in der Mitte des Platzes zu sehen ist, rutscht immer weiter auf die Zwölf zu und wir machen schnell ein paar Vorsätze für das kommende Jahr.
Und dann ist es endlich so weit: Mein erstes Jahr in London neigt sich dem Ende zu.
„Five, four, three, two, ONE!“ , schreien Hunderttausende von Menschen wie aus einer Kehle. Die Glocken von Big Ben läuten feierlich, die Menschen liegen sich in den Armen, und ein betrunkener Mann versucht, den zwanzig Meter hohen, vom norwegischen Staat gespendeten Weihnachtsbaum zu erklimmen, doch kommt er über das hohe Podest nicht hinaus. Und auch die drei Jungs, die versuchen, in das kaltblaue Wasser eines der Brunnen zu springen, bleiben erfolglos. Mehrere Polizisten ziehen sie an ihren Jackenärmeln entschlossen fort.
„Happy New Year!“ , brüllt mir ein braungebrannter Australier ins Ohr und springt dann wie besessen in die Luft. Er hat mit kluger Vorrausicht ganze Einkaufstaschen voller Bier mitgebracht, die er jetzt an Umstehende verteilt und somit innerhalb von Minuten unzählige neue Freunde gewinnt. Denn es gibt hier weder Sekt noch sonst irgendwelche Getränke, von Musik oder anderem Programm ganz zu schweigen. Selbst Feuerwerke bekommen wir nur auf den riesigen Leinwänden zu sehen, die die Lichtshow live von der Themse übertragen.
Die Menschenmassen aber amüsieren sich trotzdem gut und alle zusammen singen wir, Arm in Arm, Auld Lang Syne, das traditionelle schottische Silvesterlied zur Melodie von „Nehmt Abschied Brüder“, tanzen und freuen uns, als wäre dies tatsächlich die beste Party der Welt. Ein Amerikaner namens Bob Rodeheffer, der nur für zwei Wochen auf Besuch in England ist, ist ganz begeistert und findet alles „total spannend und cool“, und wir müssen ihm versprechen, ihn irgendwann einmal in New York zu besuchen.
Als wir uns um zwei Uhr mit wunden Füßen auf den Heimweg machen, winkt uns der Australier hinterher.
„Sehen wir uns morgen hier wieder? Um zwölf, zur Neujahrsparade?“
„Wenn wir dann schon wach sind, auf jeden Fall! See you then !“
Maddie erzählt mir, dass zu Neujahr eine riesige Parade von Künstlern, Entertainern und Bands durch die Londoner Innenstadt zieht und alles sehr aufregend sein soll. Aber so früh sei sie zu Neujahr noch nie aus dem Bett gekommen, deshalb müsse sie sich auf Berichte anderer stützen.
Als wir an der U-Bahn-Station ankommen, gibt es noch einen anderen Grund zum Feiern: Die sonst so teure U-Bahn fährt heute Nacht ausnahmsweise umsonst und anders als sonst fast die ganze Nacht hindurch. Unser Zug ist voll von singenden Menschen, die die Heimfahrt zum Weiterfeiern nutzen, ebenso wie von denen, die erst mal zu Ende gefeiert haben: In dem schmalen Korridor zwischen den Sitzreihen vor uns liegt ein junger Mann, der mit offenem Mund vor sich hinschnarcht.
Kurz bevor wir in Chalk Farm einfahren, schreckt er plötzlich auf.
„Wie viele Stationen sind es noch bis Wimbledon?“
„Du fährst in die falsche Richtung, mate. Dieser Zug fährt Richtung Norden“, teilt ihm ein anderer Passagier mit.
„Das kann nicht sein. Wie viel Uhr ist es?“
„Halb drei.“
„Dann bin ich schon seit fast zwei Stunden in diesem Zug.“
Bei dieser Einsicht klappen ihm wieder die Augen zu und er schläft ruhig auf dem Fußboden weiter. Bei seinem nächsten Aufwachen ist er hoffentlich ein bisschen näher an seinem Ziel.
Als ich am nächsten Morgen gegen elf aufwache, werden mir zwei Dinge bewusst: Ich habe gestern Nacht keinen einzigen Pfennig ausgegeben, was für London ein neuer Rekord ist. Und ich werde mir die Neujahrsparade für das kommende Jahraufheben. Denn jetzt sofort weiterzufeiern, dazu bin ich noch nicht in der Lage.
Am folgenden Abend aber gehe ich wie jeden Dienstag mit Elli, ihrem Kollegen Liam, der im gleichen Buchladen wie sie arbeitet, und dessen Mutter Sharon zum Popquiz in den Engine Room, einen Pub gleich um die Ecke in Camden. Quizabende gibt es in vielen englischen Pubs wöchentlich. Man schließt sich in kleinen Gruppen zusammen und beantwortet über einigen Bieren kniffelige Fragen zu Sport, Allgemeinwissen oder, am liebsten, Popmusik. Denn die
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