Ein Jahr in London
englische Stadt, wird man dort garantiert Horden von Minirock-bekleideten, strumpflosen und bauchfreie Hemden tragende Britinnen sehen, die es auch noch auf die Reihe bringen, das Ganze ohne Gänsehaut oder andere Zeichen von Unwohlsein zur Schau zu stellen.
Unerklärlicherweise ist dieses Verhalten umso extremer, je höher man in den Norden fährt. Auf alle hundert Kilometer Richtung Schottland, und somit Richtung Nordpol, werden die Miniröcke der Frauen um zirka zwei Zentimeter kürzer. Und zwar betrifft das nicht nur aufgedonnerte Teenager auf dem Weg in den Club, sondern Frauen aller Altersstufen, Schichten und Konfektionsgrößen. Sie alle legen es darauf an, zu jeder Tages- und Nachtzeit so viel Haut wie möglich zu zeigen, und haben dafür eine mysteriöse Methode entwickelt, ihre Kältesensoren völlig zu deaktivieren.
Und ich war so davon beeindruckt, dass ich selber auch auf meine gewohnte Ski-Unterwäsche und Winterjacke verzichtet hatte und nur im Shirt und Mantel ausgegangen war. Ein einziges Mal.
Die Strafe: Ich habe Fieber, mein Kopf fühlt sich an, als würde er jeden Moment explodieren, und meine Nebenhöhlensind so vereitert, dass ich auf dem rechten Ohr gar nichts mehr hören kann. Was mir in Hinsicht auf den Lärmpegel in meinen Unterrichtstunden zuerst als Vorteil erscheint, aber irgendwann habe ich so viel Geld für Vitamin-C-Tabletten und Echinacea ausgegeben, dass ich mich dann doch überwinde und mich aufmache, erste Kontakte mit dem englischen Gesundheitswesen zu knüpfen.
Auf dem Weg zum Supermarkt laufe ich immer an der Praxis eines Arztes namens Dr Travernen vorbei, und so gehe ich dort also schließlich hinein, fülle ein paar Formulare über meine Krankengeschichte aus, beantworte Fragen über die Länge meines Aufenthaltes in England, und dann ist schon alles geregelt und die Rezeptionistin drückt mir eine laminierte Nummer in die Hand. „Setzen Sie sich.“
„Muss ich denn nicht erst einen Termin ausmachen?“
„Wenn Sie bereit sind, ein bisschen zu warten, sieht Dr Travernen Sie auch noch heute Morgen.“
Das englische Gesundheitssystem, der National Health Service oder kurz NHS, ist zwar im eigenen Land recht verschrien, bietet aber doch den riesigen Vorteil, dass es jedem Bürger eine völlig kostenfreie Krankenversicherung bietet, ob man nun gerade arbeitslos ist oder Millionen verdient. Und so muss auch ich, nach Vorzeigen meines Passes, der als Beweis dient, dass ich EU-Bürgerin bin, keinen Penny für die Behandlung bezahlen.
Ich bin umgeben von hustenden Rentnern und Jugendlichen in Schuluniform, die schüchtern auf den Boden starren. Viele der älteren Patienten scheinen sich zu kennen und bemitleiden sich gegenseitig ob ihrer jeweiligen Gebrechen.
„ My dear , du siehst aber auch wirklich schlecht aus.“
„ I know, I know . Bei diesem kalten Wetter zieht es mir in allen Knochen.“
„Sorry to hear that, my dear.“
Ich betrachte die laminierte Nummer, die mir von der Rezeptionistin gegeben wurde. Meine Nummer ist 7, und ichversuche unauffällig rauszufinden, wer die 6 hat, um zu wissen, wann ich an der Reihe sein werde.
Ich bin es von zu Hause gewohnt, von der Arzthelferin aufgerufen zu werden, aber die Rezeptionistin in dieser Praxis ist damit beschäftigt, eine „Top of the Pops“-Wiederholung mit der englischen Hitparade auf einem kleinen Fernseher zu gucken, der wohl zur Unterhaltung der Patienten auf einem Regal an der Wand angebracht ist.
Ungefähr alle Viertelstunde hört man in dem Zimmer, an dessen Tür Dr Travernens Namenschild angebracht ist, ein Handglöckchen läuten. Dann öffnet sich die Tür, ein Patient kommt heraus und der Nächste von uns erhebt sich. Dies geht fast eineinhalb Stunden lang so, bis plötzlich niemand mehr aufsteht und mich alle ungeduldig anschauen.
„ It’s your turn, love “, sagt schließlich die Frau neben mir. Trotz besten Bemühens habe ich doch meine Nummer verpasst. Ich stehe eiligst auf und klopfe an die Arzttür.
Abgesehen von der weißen Liege in der einen Ecke und dem Stethoskop um seinen Hals sieht Dr Travernens Praxis eher aus wie das Arbeitszimmer eines zerstreuten Professors. Eine Unmenge an Büchern steht auf Regalen, an den Wänden hängen Picasso-Abzüge und zwischendrin ein ganzes Meer von Spinnenpflanzen, die kreuz und quer über die Regale zu ranken scheinen. Und einen weißen Kittel trägt Dr Travernen auch nicht.
„ Hello Miss Redscheneiter ! Habe ich das richtig ausgesprochen?“ Dr
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