Ein Jahr in London
Travernen, ein kleiner Mann Ende vierzig mit Beatles-Haarschnitt, spricht mit dem Akzent, an dem man die gehobene Mittelschicht binnen Sekunden erkennen kann. Ich berichtige ihn und beantworte seine Frage nach der Herkunft meines Namens.
„Ach nein, so was! Meine Großmutter stammt nämlich auch aus Deutschland. Sie hat meinen englischen Großvater am Ende des Krieges kennengelernt, die beiden haben geheiratet und anschließend sind sie nach Liverpool gezogen.“
Bald weiß ich alles über Dr Travernens Familiengeschichte, während meine Krankengeschichte nur eine lästige Nebensache zu sein scheint.
„Könnten Sie mir denn irgendwas gegen die Kopfschmerzen verschreiben?“
„Und meine Oma hat mir immer deutsche Lieder vorgesungen. Kennen Sie das hier –“ Er fängt an, die Melodie von „Kein schöner Land in dieser Zeit“ vorzupfeifen, doch ich unterbreche ihn.
„Und etwas gegen den Husten?“ Erst jetzt kommt er dazu, meine Lungen abzuhören und mich nach meinen Symptomen zu fragen.
„Ach, wissen Sie“, sagt er anschließend, „bei so einem grippalen Infekt hilft wirklich nur eines.“
„Ach ja?“
Er kramt lange unter seinem Schreibtisch in den Hunderten von Plastiktüten, die dort gelagert sind, und taucht dann schließlich lächelnd wieder hervor. In der Hand hält er ein Whiskeyglas, welches er laut vor mich hinstellt.
„Das hier.“
Ich frage mich, ob er mir jetzt vielleicht ein Glas einschenken und dann weiter von seiner Familie erzählen wird, und werde ungeduldig.
„Was hat das mit meiner Grippe zu tun?“, frage ich, vielleicht etwas ruppig.
„Ich könnte Ihnen teure Medikamente verschreiben. Ich könnte Ihnen Antibiotika verschreiben. Aber wissen Sie, all das hilft in Wirklichkeit gar nichts und bringt nur den Chemiekonzernen Geld ein. Das einzige gute Mittel ist dies, was meine Großmutter aus Schottland – meine Oma Milly – mir schon als kleinem Jungen gegeben hat. Und das ist ein großes Glas Whisky, aufgegossen mit heißem Wasser, dem frisch gepressten Saft einer halben Zitrone und einem großen Löffel Honig. Hot Toddy nennt man das.“
„Bekomme ich dafür ein Rezept?“
Er lacht. „Also, glauben Sie mir, ein paar Gläser von denen pro Abend, und anstatt klagend im Bett zu liegen, werden Sie bald auf den Tischen tanzen.“
Das glaube ich ihm gern und will dann schnell aus der Tür hinaus, bevor ich mir weitere Storys von Oma Milly anhören muss.
„Aber benutzen Sie Whisky ohne -e- am Ende, nicht Whiskey ! Das ist ganz wichtig! Kennen Sie den Unterschied? Whisky wird in Schottland gebraut, Whiskey in Irland und Amerika, und dreimal dürfen Sie raten, welcher der bessere ist.“ In den nächsten zehn Minuten erfahre ich alles, was ein Normalbürger jemals über Whisk(e)y wissen sollte, und ebenso wird mir klar, weshalb in England die Wartezeiten für Arztbesuche so lang sind.
Dr Travernens Rat jedoch, jeden Abend mehrere Gläser Whisky mit Zitrone zu trinken, folge ich mit großem Eifer, auch wenn meine Erkältung davon nicht besser wird. In der Tat huste ich so viel, dass vermutlich niemand in meinem Haus viel Schlaf bekommt.
Nach ein paar Tagen klopft Yitkee etwas beschämt an meine Tür und hält mir ein kleines Paket entgegen.
„Hier, das ist für dich.“
Ich mache es auf und entdecke ein großes Glas Honig und ein paar Zitronen. Die perfekten Zutaten für meine Hot Toddys !
Ich sollte gerührt sein, aber es handelt sich offensichtlich um ein nicht ganz selbstloses Geschenk – schließlich ist die Wand zwischen meinem und Yitkees Zimmer so dünn, dass wir genauso gut im gleichen Zimmer wohnen könnten. Auch ich mache ihm am kommenden Tag ein kleines Geschenk – ein Paket Ohropax.
Februar
Böse Zungen behaupten, der Valentinstag sei eine Erfindung der Floristen und Pralinenindustrie. Wofür sie, finde ich, beide eine angemessene Strafe verdient haben, denn den Valentinstag in England als Single zu überstehen ist eine Tortur. In England feiert man den 14. Februar schon seit Jahrhunderten, und das Fest einfach zu ignorieren und so zu tun, als sei es ein Tag wie jeder andere, ist unmöglich. Restaurants sind wochenlang vorher ausgebucht und bieten an diesem Tag sowieso ausschließlich romantic dinners for two mit Austern und Champagner an, Theater und Kinos spielen Romeo and Juliet oder vielleicht mal die West Side Story, und selbst die Pubs haben ihre eigenen Valentinsveranstaltungen, so dass man sich als Alleinstehende überall unerwünscht vorkommt.
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