Ein Jahr in London
Am Valentinsabend allein in den Pub oder auch nur zum Supermarkt zu gehen, ist ein eindeutiger Beweis dafür, dass man sad ist. Und sad in der Umgangssprache bedeutet nicht nur traurig, sondern unsympathisch, mitleiderregend und widerwärtig. Und genauso fühle ich mich heute Abend.
Als ich von der Arbeit nach Hause gehe, kommen mir unzählige Männer mit Blumensträußen in den Armen entgegen, und schon so früh am Abend scheint die ganze Welt nur aus glücklichen Paaren zu bestehen, die sich Arm in Arm zu einem romantischen Dinner in einem teuren Restaurant aufgemacht haben. Ich scheine die einzige Person zu sein, die an diesem Tag alleine durch Primrose Hill läuft.
Doch als ich zu Hause eintreffe, erwartet mich eine Überraschung. Auf dem kleinen Tisch im Flur liegt eine rosane, an mich adressierte Karte, die ich zitternd aufhebe. „For Anna“ steht darauf in einer mit unbekannten Schrift. Ich öffne sie mitklopfendem Herzen und hoffe gegen alle Befürchtungen. Auf der Außenklappe der Karte ist ein dickes, rotes Herz, darunter in ebenfalls roten Buchstaben: „For my Valentine“. Mein Tag ist gerettet.
Ich breche vorsichtig den Umschlag auf, öffne die Karte und lese dann die krakelige Schrift darin: „Damit du nicht ganz leer ausgehst – Yitkee“. Ich bin gerührt und enttäuscht und fühle ich mich noch miserabler als vorher. Man schreibt mir sogar Trostkarten.
Am Abend ist das Haus bis auf Yitkee, Elli und mich völlig vereinsamt. Nick ist gleich über ein verlängertes Wochenende weggefahren, um all das zu vermeiden, Felice ist mit seiner japanischen Freundin ausgegangen, und selbst der schweigsame James scheint ein Date zu haben, denn gegen sechs Uhr sehe ich ihn wortlos und mit einem Blumenstrauß bewaffnet die Treppe hinunterstolpern. Und so sitzen wir freund- und lieblos zu dritt in Ellis Zimmer und schauen verstimmt Fernsehen. Doch auch in Eastenders dreht sich alles nur um St. Valentin.
„Wenn du deine Karte nicht unterschrieben hättest, könnte ich jetzt wenigstens über einen mysteriösen Verehrer fantasieren“, beschwere ich mich bei Yitkee.
„Entschuldigung, aber ich wollte dir keine falschen Hoffnungen machen. Und nachher hättest du meine Schrift noch erkannt und gedacht, ich wäre tatsächlich in dich verliebt.“ Ich werfe ihm einen giftigen Blick zu. Wir sind an diesem Abend alle drei nicht sehr wohlwollend gestimmt.
Aus dem Fenster sieht man ein Paar nach dem anderen Arm in Arm die Straße hinunterlaufen und wir beschließen, uns zum Trost eine weitere Flasche Wein zu besorgen, aber keiner hat Lust, sich allein auf der Straße zu zeigen.
Schließlich gehen Yitkee und ich los und legen beide Wert darauf, so weit wie möglich voneinander entfernt zu gehen.
„Eine rote Rose für unser Liebespaar?“, fragt ein Blumenverkäufer, der vor einem Restaurant auf Opfer wartet.
„Nein, danke.“ Wir gehen schnell weiter.
Als wir zurückkehren, klingelt das Telefon im Flur.
„Wenn es für mich ist, sagt bitte, ich wäre nicht zu Hause. Dass ich schon wieder ein Valentinsfest allein zu Hause verbringe, muss ja niemand wissen“, sagt Elli.
„Und wir zählen nicht?“, fragt Yitkee beleidigt.
„Hello. “ Es ist nicht Ellis Mutter, sondern eine tiefe, traurige Stimme mit einem australischen Akzent. Eine kurze Pause, dann: „Sorry, James is dead.“
James tot? Das kann doch nicht sein! Ich starre, ohne zu atmen, die Wand an, nehme jedes einzelne Blümchenmuster plötzlich dreimal so deutlich wahr wie sonst und überlege, dass ich James, unseren schweigsamen, netten James, doch noch vor zwei Stunden gesehen habe. Dass wir noch nicht einmal ein Wort miteinander gewechselt haben, und dies nun das letzte Mal gewesen sein wird, dass ich ihn gesehen habe. Ich fühle mich schrecklich.
Die Stimme am anderen Ende der Leitung meldet sich wieder.
„ Hello ? Sind sie noch da?“
„Ja, natürlich“, antworte ich, schluckend. „Es ist ein großer Schock. I’m so sorry.“ Hatte er etwa einen Unfall? Oder hat er sich etwa an diesem deprimierenden Tag etwas angetan? Vielleicht war der Blumenstrauß nur Tarnung.
„Oh, es macht ja nichts weiter. Können Sie ihm eine Nachricht hinterlassen?“
„ Excuse me?“ Ich schlucke noch einmal und frage dann erbost: „ Wer sind Sie?“
„Wie ich schon sagte: James’ Dad. The dad of James !“
Nachdem ich mich so ruhig wie möglich verabschiedet habe, kritzele ich beschämt eine Nachricht für James auf den Block neben dem Telefon und
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