Ein Jahr in New York
war, und öffnete eine Flasche Wein. An Arbeiten war eh nicht mehr zu denken. Kollegen boten Kollegen Sofas zumÜbernachten an. Restaurants entleerten die nicht mehr kalten Kühlschränke und veranstalteten kostenlose Barbecues auf den Bürgersteigen. Gestrandete Pendler verbrachten in der Bahnhofshalle des Grand Central die Nacht nebeneinander. Die Menschen in Brooklyn sahen statt erleuchteter Skyline eine dunkle Silhouette, die in ihrer Rarität fast poetischer war als das übliche nächtliche Flimmern. Was man aus der Ferne nicht sehen konnte, war das Flackern der Kerzen, die noch bis spät in die Nacht in allen Häusern Manhattans brannten.
Und dann gab es natürlich auch schöne Anlässe, die die New Yorker zusammenschweißten. So wie dieser idyllische Schneemorgen. Niemand hetzte, wie sonst alle, in seine Gedanken vertieft zur U-Bahn. Ganz im Gegenteil, überall trafen sich die Blicke Fremder. Jeder lächelte jedem komplizenhaft zu. Dieses kleine weiße Wunder erlebten wir zusammen. Wir wurden alle von der gleichen Schneemasse ausgebremst. Die aufgezwungene Langsamkeit fühlte sich großartig an.
Diese kindliche Euphorie verschwand abrupt, als ich die U-Bahn-Treppen hinunterlief. Ich schaffte es kaum durch das Drehkreuz. Dahinter wartete ein Stau aus übel gestimmten Leuten. Die Freude über den Schnee hatte sich umgehend in pragmatischen Ärger aufgelöst. Der Bahnsteig war überfüllt mit Menschen, die dringend nach Manhattan wollten. So wie ich.
Eine U-Bahn rauschte in den Bahnhof. Und mit ihr die Hoffnung, dass es gleich weitergehen würde. Diese Hoffnung wurde zertrümmert, noch bevor der Zug zum Stehen kam. Die glücklichen Menschen, die schon drinsaßen, sahen nicht sonderlich glücklich aus. Sie waren wie Vieh in die Waggons gequetscht. Es konnte nicht mal jemandaussteigen. Das zusammengepresste Rudel Passagiere ließ sich nicht bewegen. Zwei, drei penetrante neue Fahrgäste drängelten sich noch mit Gewalt in jedes Abteil. Der Rest blieb frustriert am Bahnsteig zurück.
Der nächste überfüllte Zug hielt gar nicht erst an. Ich erwischte nach langem Warten den Vierten und war über eine Stunde zu spät im Büro. Aber ich war nicht die Letzte. Einige meiner Kollegen waren gleich zuhause geblieben und arbeiteten von dort.
„Sobald es hier mal ein bisschen mehr regnet oder schneit, bricht dieses museumsreife U-Bahn-System sofort zusammen“, stöhnte Vanessa, die dieses Verkehrs-Chaos anscheinend schon oft erlebt hatte und in ihrer Winteruniform – gefütterte Gummistiefel und ein schwarzer bodenlanger Daunenmantel – verärgert ins Office stiefelte. Und vom defekten Schienenverkehr sind hier nicht nur einige, sondern fast alle betroffen. Er bremst die komplette Stadt aus.
Bis zur Mittagspause waren die Wolken schon zur Seite gerückt und gaben den strahlend blauen Himmel frei. Der lahmgelegte Verkehr in Midtown hatte die Straßen hupend zurückerobert, und die Taxis rauschten wieder unbeirrt durch die Asphaltschluchten. Für uns Fußgänger wurde das, was man gemeinhin Fortbewegung nennt, dagegen zum Training auf einem temporären Hindernisparcours. Riesige Schneeberge türmten sich zwischen Fahrbahn und Bürgersteig und waren von dreckigen Pfützen umgeben, die sich an jeder Straßenecke zu braunen Seen aufstauten, um die man umständlich herummanövrieren musste. Im Augenwinkel immer die Fahrbahn, damit man nicht versehentlich von der Fontäne eines vorbeifahrenden Autos übergossen wurde. Das schöne Puderweiß verwandelte sich allmählich in hässliches Grau.
Als ich abends auf die U-Bahn wartete, kam sie sofort. Die Lage war wieder unter Kontrolle, auch wenn von der Decke ungehindert Rinnsale mit Schmelzwasser auf den Bahnsteig und die Gleise tropften. In Deutschland hätte sich längst das Ordnungsamt eingeschaltet. Hier war das anscheinend normal. Keiner verschwendete auch nur einen Blick.
„Die New Yorker beschweren sich das ganze Jahr. Im Sommer ist es ihnen zu heiß und im Winter zu kalt“, sagte Val, als ich nachhause kam. „Ich liebe diese ehrlichen, wenn auch qualvollen Jahreszeiten. Nach so einem Schneesturm kann man wenigstens mal guten Gewissens zuhause zu bleiben“, fuhr sie fort und war gerade dabei, einen köstlich duftenden Bohnenauflauf aus dem Ofen zu ziehen. Sie hatte Recht. Hier moserte man auf hohem Niveau. In Deutschland dagegen kam man nicht mal in die Verlegenheit, sich über Hitze und Schneestürme zu beklagen. „In Hamburg gibt’s gar keinen richtigen
Weitere Kostenlose Bücher