Ein Jahr in New York
heute doch noch mal gemütlich nachhause gehen durfte. Und ich musste nicht mal ein schlechtes Gewissen haben, ich hatte es ja versucht. „Ja, 35 Dollar, das ist doch unglaublich günstig“, sagte er und war sichtlich irritiert wegen meines entrüsteten Gesichtsausdrucks. „Günstig? Ach so, Sie meinen pro Monat?“, vermutete ich. „Nein, pro Jahr natürlich.“ Daraufhin war ich noch fassungsloser und wurde auf der Stelle Mitglied im Metropolitan Public Pool. „Es gibt in der Stadt eine ganze Reihe öffentlicher Bäder, die von der Stadt subventioniert werden. Die Freibäder im Sommer sind sogar umsonst“, verriet mir der Mann noch.
Bevor ich es mir wieder anders überlegen konnte, ging ich schnell nachhause, packte meine Badesachen und machte mich gleich auf den Weg zurück zum Pool. „Ohne Badekappe können Sie leider nicht ins Wasser“, wurde ich gleich am Eingang ausgebremst. Badekappen waren Pflicht, und für die Schränke in der Umkleide brauchte man sein eigenes Schloss. Ich hatte weder das eine noch das andere, und die Läden hatten auch schon zu. Mein „gemütlich auf der Couch liegen“-Wunsch wurde anscheinend doch erhört.
Freitag war es dann so weit. Ich hatte frei und wollte gleich morgens schwimmen gehen. Dieses Mal war ich bestens ausgerüstet und hatte alles dabei. Eine neue quietschgelbe Badekappe, eine Schwimmbrille und mein eigenes Zahlenschloss. Das war leider nicht ganz so simpel in der Handhabung wie die deutschen. Statt einer harmlosen Zahlenkombination musste man sich drei zweistellige Zahlen merken und dazwischen das Drehrädchen erst nach rechts dreimal über die Null hinweg, dann nach links einmal über dieNull und dann wieder nach rechts direkt auf die Zahl drehen. Verstanden? – Ich auch erst beim fünften Mal.
Zuhause hatte ich vorsichtshalber schon ein bisschen geübt und war trotzdem ein wenig nervös. Nicht, dass ich am Ende im nassen Badeanzug in der Lobby landete und umständlich erklären musste, dass ich meine Zahlenkombination vergessen hatte. Ich hoffte, man war für Notfälle gerüstet.
„Sie haben Glück, heute Morgen ist das Hallenbad nur für Frauen“, sagte das Mädchen am Eingang und deutete auf den Vorhang, den man vor die Scheibe gezogen hatte, durch die man das letzte Mal ins Bad schauen konnte. Glück? Ihr Amerikaner seid echt ganz schön prüde, dachte ich insgeheim. Dass allein der Gedanke, dass Frauen und Männer in Europa nackt nebeneinander in der Sauna sitzen, den Menschen hier entweder die Schamesröte ins Gesicht treibt oder obszöne Fantasien auslöste, war noch nachvollziehbar. Aber nach Geschlechtern getrennte Schwimmbadschichten?
Ich ging in die leere Umkleide und öffnete den ersten Spind. Daraus starrte mir eine braun gelockte Perücke entgegen. Ich überlegte kurz, ob das komisch war, verwarf die Frage, machte die Tür wieder zu und öffnete den Nachbar-Spind. Die nächste Perücke, dieses Mal in blond. Ich probierte den nächsten Spind. Wieder eine Perücke. Ich verstand nichts. Der nächste Spind war leer, ich zog mich schweigend und ziemlich irritiert um.
Zwei Frauen kamen plaudernd aus der Schwimmhalle. Statt regulären Badeanzügen trugen sie wallende Schwimmkleider. Die beiden redeten Jiddisch.
Ich wusste, dass im südlichen Teil von Williamsburg fast ausschließlich ultra-orthodoxe chassidische Juden lebten, sehr religiös und konservativ, meist mit osteuropäischenWurzeln. Die Männer in ihren dunklen Anzügen fielen sofort auf, weil sie die typischen Schläfenlöckchen trugen und riesige schwarze Hüte, die in ihrer Überproportionalität fast ein wenig ulkig wirkten. Die Frauen in ihren erdfarbenen Röcken und Mänteln dagegen sahen einfach nur altmodisch aus. Auch wenn sie im selben Stadtteil lebten, sah man sie sehr selten. Sie verirrten sich kaum in den Teil von Williamsburg, in dem sich die Cafés, Läden und Restaurants befanden. Der Broadway (in Brooklyn, nicht zu verwechseln mit dem Broadway in Manhattan) funktionierte wie eine mentale Grenze.
Die beiden Frauen in der Umkleide hatten sie offensichtlich überschritten, um schwimmen zu gehen. Sie zogen sich ihre Badekappen vom Kopf, und zwei kahl rasierte Köpfe kamen darunter zum Vorschein. Ich bemühte mich, woanders hinzuschauen und mich nicht zu auffällig unauffällig zu verhalten. Dazu beschlich mich natürlich dieses uns Deutschen zwanghaft anhaftende Gefühl von vererbter Schuld. Und diese unsinnige Befangenheit, jetzt lieber kein deutsches Wort von mir zu
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