Ein Jahr in New York
geben. Ein witzloser Impuls. Allein, weil hier die größte jüdische Gemeinde außerhalb Israels lebte, zwölf Prozent der New Yorker waren jüdischer Abstammung.
Im Wasser war ich dann die Einzige, die kein Schwimmkleid trug, und fühlte mich, als wäre ich aus Versehen in ein Wasserballett geraten. Oder eher in ein Wassercafé? Denn zum Schwimmen waren die Frauen nicht hier. In plaudernden Zweiergrüppchen schwammen sie auf der Stelle. Ein feuchter Kaffeeklatsch.
„Ja, wusstest du das denn nicht?! Die verheirateten orthodoxen jüdischen Frauen tragen alle Perücken, weil sie ihre Haare nicht vorm anderen Geschlecht entblößen dürfenund ihren Körper schon gar nicht. Deshalb der Vorhang“, erläuterte Val, als ich nachhause kam und ihr etwas verstört Bericht erstattete. „Angeblich haben die orthodoxen Juden beim Sex auch immer ein Laken zwischen sich liegen, mit einem Loch drin. Das halte ich allerdings für ein Gerücht, aber es gibt auf jeden Fall ’ne Menge komplizierte Regeln in der orthodox-jüdischen Gemeinde“, fuhr sie fort. Ich hatte keine Ahnung und war immer noch etwas verwirrt über diese befremdliche Lebensart.
Ich erinnerte mich, dass mir am Wochenende zuvor auf der Williamsburg Bridge zwei junge Mädchen im Stechschritt entgegengelaufen waren. Beide hatten merkwürdig altmodische, lange Tweedröcke und Blazer an, sauber frisierte Haare und dunkle Strumpfhosen. Dazu trugen sie Turnschuhe. Ich dachte, die Mädchen hätten es eilig. Jetzt wurde mir klar: Die beiden hatten Sport gemacht. In Zivil-Kleidung. „Dürfen die in der Öffentlichkeit auch keinen Sport treiben?“, fragte ich Val. „Keine Ahnung, aber wenn du welchen machen willst, warum kommst du nicht mal mit zum Yoga“, schlug Valerie vor. Meine Begeisterung hielt sich in Grenzen. „Wenn ich mich schon zum Sport durchringe, dann will ich mich wenigstens richtig auspowern, und Yoga sieht eher nach Mentalsport aus“, behauptete ich kühn und hatte keine Ahnung, dass ich mit dieser Einschätzung ziemlich danebenlag. „Beim Yoga schwitzt du sicher mehr als im Hallenbad“, konterte Val.
Also lag ich ein paar Tage später neben ihr auf der Matte. Natürlich hatte ich schon vorher geahnt, dass einige dieser akrobatischen Körperverknotungen jahrelanges Training, wenn nicht gar mentale Erleuchtung voraussetzen. Aber dass mein steifes Rückgrat schon bei dem simplen Versuch, mit ausgestreckten Beinen auf dem Boden zusitzen, nach fünf Sekunden blockierte, stellte schon mal vorab klar, dass da keine gemütliche Meditationsstunde vor mir liegen würde.
Wir fingen mit Sanskrit-Gesängen an und saßen im Schneidersitz. Vor uns der Altar, von dem ein Räucherstäbchen spirituelle Aromen verströmte. Alle um mich herum wiederholten summend im Chor, was die Lehrerin uns vorsang. Ich versuchte mir krampfhaft diese fremden Töne und Silben zu merken, während meine schiefe Stimme sich sträubte, sich in den Fluss der anderen einzubetten. Zwischendurch blinzelte ich heimlich in die Runde, um sicherzugehen, dass mich niemand entsetzt anstarrte, weil ich am Ende des Absatzes mal wieder solo in die plötzliche Stille hineingesummt hatte. So nach und nach tastete sich meine Stimme an den Chor der anderen Stimmen heran, und ich begann mich zu entspannen.
Diese Entspannung verschwand abrupt, als wir mit den ersten Sonnengrüßen begannen. Ich versuchte gehetzt, nicht den Anschluss zu verlieren, schaute mich Hilfe suchend nach Valerie um und versuchte, die Bewegungen meiner Mattennachbarn nachzuahmen. Im Gegensatz zu mir verstanden diese anscheinend ganz genau, was die Yogalehrerin von uns erwartete. In der Theorie klangen diese Posen alle kinderleicht. Der Baum, die Krähe, abwärts schauender Hund, aufwärts schauender Hund. Aber in der Praxis fehlte mir einfach alles, was einen guten Yogi ausmacht: Körperbeherrschung, Muskelkraft, Elastizität – und meine innere Mitte konnte ich auch nicht finden. So sehr ich mich bemühte. Ich fühlte mich vielmehr wie ein angefahrenes Reh, während um mich herum alle mühelos in den Spagat glitten, bewegungslos wie ein Baum auf dem Kopf und genauso verwurzelt auf einem Bein standen und ihre zusammengefalteten Hände gen Himmel streckten.Ich konnte einen Anflug von Neid nicht unterdrücken und fühlte mich daraufhin erst recht wie ein dilettantischer Freizeit-Yogi. „Ihr müsst euch von der Außenwelt lösen und von Wünschen, Furcht, Zorn und Begierden befreien“, ermahnte die Yoga-Lehrerin, als hätte
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