Ein Jahr in New York
sie meine Gedanken gelesen. „Konzentriert euch nur auf eure Atmung.“ Ja, die Atmung, die eigentlich ganz gedankenlos von selbst strömen sollte. Ein und aus. Ein und aus. Ein und aus. Selbst dieser körpereigene Reflex wurde plötzlich zur Herausforderung. Ich bemühte mich hechelnd einen Rhythmus zu finden. „Bewegt euch mit dem Ocean Breath“, sagte sie. Statt Meeresrauschen pfiff aus meiner Lunge ein asthmatisches Röcheln. Ich hoffte, dass meine Nachbarn darüber hinwegatmeten. „Versucht die Leere wahrzunehmen, das Hier und Jetzt“, fuhr sie fort. Leere? Ich hatte mich selten so schwer gefühlt wie an diesem Abend. Hier und jetzt.
Am Ende der Stunde war ich so erledigt, dass ich in der Leichenpose bei dem Versuch, an Nichts zu denken, fast eingeschlafen wäre. Aber erst nachdem ich einen vibrierenden Schmerz in meinem Kreuz weggeatmet hatte, mit dem mir mein Körper eindeutig zu verstehen gab, dass er ein wenig irritiert über diesen neuen Bewegungshorizont war. Kurz darauf stellte sich plötzlich eine unglaubliche Ganzkörperentspannung ein. Um mich herum atmeten lauter bewegungslose Körper mit zufriedenen Gesichtsaudrücken. Es gelang mir zwar, nicht wieder in den Halbschlaf abzugleiten, aber meine Gedanken hüpften dafür umso wilder durch den Raum. Ich dachte daran, dass ich schon wieder vergessen hatte, meine Handyrechnung zu bezahlen. Ach ja, Noelle wartete auch noch auf meinen Rückruf. Und Hunger hatte ich. Einen riesigen, laut knurrenden Hunger. Neben mir ertönte plötzlich leises Schnarchen. Ich war erleichtert, dass es nicht aus meiner Nase kam und dass ichoffenbar nicht die Einzige war, die ihre physischen Bedürfnisse nicht unter Kontrolle hatte.
„Und, wie hat’s dir gefallen?“, erkundigte sich Val, als wir nach der Stunde gegenüber im vegetarischen Restaurant „Café Bliss“ auf der Bedford Avenue saßen. „Yoga ist tatsächlich wesentlich anstrengender, als ich dachte, und viel schwieriger, als es aussieht. Aber jetzt, wo es vorbei ist, fühle ich mich total entspannt.“ Ich bestellte mir eine „Citrus Sensation“, eine Reispfanne mit mariniertem Seitan und einen Chai Latte mit Sojamilch. „Das Tolle ist, dass man nach dem Yoga automatisch Heißhunger auf was Gesundes hat“, sagte Val. „Ich esse hier sowieso viel gesünder als in Deutschland“, erzählte ich ihr, „entgegen allen Prognosen und Vorurteilen, dass man sich in Amerika automatisch dick frisst.“
„Klischees sind da, um widerlegt zu werden“, entgegnete Val und hatte Recht. Und das war nicht das erste Vorurteil, das sich hier nach genauerer Realitätsprüfung auflöste wie eine Vitamintablette.
März
D AS WAR MIR ALLES ZU KOMPLIZIERT. All diese Regeln, die es zu befolgen, und die Codes, die es zu entziffern galt. Unzähliges gab es hier zu bedenken, das mit Liebe nicht viel zu tun hatte. Dafür brauchte man(n), und die deutsche Frau erst recht, tatsächlich eine Gebrauchsanweisung. Deshalb gibt es reichlich Lektüre und endlos viele Ratgeber-Websites, aber praktizieren muss man es schließlich selbst. Die Rede ist vom „Daten“, einem der ganz großen Themen in dieser Stadt, in der es vor Singles nur so wimmelt. Mehr als drei Millionen New Yorker sind alleinstehend. Das ergibt rund 48 Prozent Singlehaushalte. Um diese statistische Einsamkeit zu überbrücken, geht man hier „daten“. Die Suche nach dem Richtigen ist ein New Yorker Gesellschaftsspiel. Erfolg hat, wer die Regeln beherrscht. Als ahnungsloser Ausländer muss man auf seinen Exotenbonus hoffen.
„Man kann sich tatsächlich gleichzeitig mit mehreren Typen treffen, und alle Beteiligten finden das ganz normal?“, fragte ich mit verständnislos gerunzelter Stirn. Valerie und ich saßen in meinem Zimmer vorm Laptop und begutachteten die Männer, die auf ihr Profil der Dating-Website match.com angesprungen waren. „Warum denn nicht! So kann man eine Weile mehrere Modelle testen, bis man den Richtigen gefunden hat“, erwiderte sie. „Das klingt, als wenn du ein Auto suchtest und keinen Mann“, schmunzelte ich. Dieser soziale Pragmatismus war mir suspekt.
Auf dem Foto lächelte Val mit knallroten Lippen verheißungsvoll in die Kamera. Dementsprechend hoch war der Verkehr auf ihrer Seite. Sie wurde regelrecht bombardiert mit Angeboten. Als Femme fatale kannte ich meine Mitbewohnerin bisher gar nicht. Valerie zählte eher zu dem uneitlen Typ Frau, der auch nachmittags um drei Uhr noch im Bademantel durch die Wohnung läuft. Sie war schon
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