Ein Jahr in New York
sich leider nicht kalkulieren.
Ich stand gerade unten auf der ersten Treppenstufe, als ich hörte, wie über mir quietschend die U-Bahn in der Station hielt. Die Gleise der J-, M- und Z-Linien lagen an dieser Stelle oberhalb der Straße. Die U-Bahn fuhr über die Williamsburg Bridge in die Stadt. Vor mir lag eine steile Treppe mit sehr vielen Stufen, und ich sprintete nach oben. Hektisch suchte ich in meinem Portemonnaie die Metro-Karte. Ich konnte sie nicht finden, stand völlig außer Atem vorm Drehkreuz und musste mit ansehen, wie der Zug nach Manhattan fuhr. Ohne mich.
„Da bist du ja“, begrüßte mich Noelle und öffnete die Tür des Frachtaufzuges, die direkt in das offene,lichtdurchflutete Loft führte. „Ja, tut mir echt leid, aber ...“, versuchte ich mit schlechtem Gewissen, meine einstündige Verspätung zu erklären. „Ist doch überhaupt kein Problem, komm rein“, sagte sie. Die Amerikaner – wie immer Verständnis für Verspätungen. Noelles ältere Schwester Laura war Produktdesignerin und hatte ein eigenes Atelier in einem großen Loft in SoHo. Sie hatte ihre Freunde zu einem internen Flohmarkt eingeladen. Auf einem großen Tisch lag ein Riesenberg Klamotten, daneben standen mehrere Flaschen Rotwein. Einige davon schon geöffnet.
„Jeder hat Sachen mitgebracht, die er eh nicht mehr anzieht. Nimm dir einfach, was dir gefällt“, sagte Laura zu mir, „und mach dir keine Gedanken, ob du was beisteuern konntest oder nicht. Wirklich, bedien dich.“ Nach sieben Monaten New York hatte ich tatsächlich keine überschüssigen Kleidungsstücke im Schrank. Mehr als die Klamotten interessierte mich allerdings der Blick aus den großen Fenstern: Man schaute mitten rein ins wunderschöne SoHo.
„Wow, ein tolles Loft. Und dass der Aufzug gleich im Atelier hält, ist echt toll“, sagte ich. „In SoHo ganz normal“, erwiderte Laura und erzählte, dass die alten historischen Gebäude ursprünglich als Produktions- und Lagerräume genutzt worden waren. Das erklärte auch, warum der Aufzug längst nicht so elegant wie die Exemplare im Rockefeller Center gewesen war. Statt mit einer Wandverkleidung aus edlem Holz, Info-Screens mit eingespielten News samt Wetterlage und goldfarbenen Druckknöpfen konfrontiert zu werden, stand ich in einem rohen Lastenaufzug, der schwerfällig von Etage zu Etage geklettert war. „Diese ganzen tollen Cast-Iron-Gebäude, die du hier in SoHo überall siehst, wären um ein Haar in den Sechzigern alle abgerissen worden“, sagte Noelles Schwester.
Aufgrund der vielen historischen Gebäude mit den gusseisernen Fassaden wird SoHo auch Cast-Iron-Viertel genannt. Diese Gusseisen-Konstruktionen sind ein Relikt der amerikanischen Gründerzeit (1840–1890). Das Material erlaubte damals eine völlig neue Baustruktur mit großen Fenster- und Raumflächen – hervorragend für die damaligen Fabriken – und gestalterischem Freiraum, der genutzt wurde, um Fassaden mit dekorativen Barock- und Renaissance-Elementen zu schmücken. Die wurden dann flink hell übergepinselt und sahen aus wie die schicken Steinfassaden in Italien und Frankreich, die man sich zum Vorbild nahm. Gusseisen war günstiger und konnte schneller verbaut werden als Stein, weil die Elemente industriell vorgefertigt wurden. Die Fertigbauten der damaligen Zeit sozusagen, die heute unter Denkmalschutz stehen.
„Der Städteplaner Robert Moses wollte mitten durch die Stadt, von Ost nach West, den Lower Manhattan Expressway bauen. So wären ganze Neighborhoods, wie das East Village, SoHo, Nolita und das West Village, ausgelöscht worden“, fuhr Laura fort. „Du musst unbedingt mal ein Buch über Robert Moses lesen, danach verstehst du die Anatomie der Stadt viel besser.“
Robert Moses, dieser Name fiel so oft. Die einen verehrten ihn als einen der größten Visionäre der Architekturgeschichte, die anderen hassten ihn für seinen zerstörerischen, zu Beton gewordenen Größenwahn. Einig ist man sich allerdings, dass der Sohn einer deutsch-jüdischen Einwandererfamilie der einflussreichste Stadtplaner in der Geschichte New Yorks war. Zugute halten muss man ihm viele Brücken, Tunnel und eine Reihe öffentlicher Parkanlagen, Schwimmbäder und 658 Spielplätze. Die setzte er in den Dreißigern mit dem damaligen Bürgermeister Fiorello Henry LaGuardia durch, obwohl in der Stadt gerade dieWeltwirtschaftskrise wütete. Für die Menschen damals, vor allem für die ärmere Arbeiterklasse, eine erhebliche Steigerung der
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