Ein Jahr in New York
Frau durchgeführt wurde: „Da Roebling sich kurz nach Beginn der Bauarbeiten einen Fuß quetschte und tragischerweise drei Wochen später an den Folgen seiner Verletzung starb, übernahm sein Sohn. Aber wie durch einen Fluch erkrankte auch Roebling junior, und seine Frau Emily musste die Bauleitung übernehmen. Emily war die Erste, die damals die Brücke überquerte.“
„So wunderschön diese Skyline auch ist, ich muss immer an die Energieverschwendung denken. All diese Büros, in denen nachts das Licht angelassen wird, obwohl niemand mehr da ist“, wechselte ich das Thema. „Und außerdem kann man kaum Sterne sehen, weil die Stadt den kompletten Himmel ausleuchtet.“
Plötzlich merkte ich, wie Jonathan seinen orangefarbenen Kopf auf meine Schulter legte. Auch wenn der Glühwein meine Wahrnehmung etwas verschleiert hatte, war ich sofort hellwach. Den Bruchteil einer Sekunde überlegte ich hin und her, aber schon eine halbe Sekunde späterentzog sich diese Vorstellung umgehend meiner Fantasie. Ich mochte Jonathan zwar sehr gerne. Aber nur gut dosiert und als gelegentliche Unterhaltung auf rein platonischer Ebene. Dies war zwar die romantischste Kulisse, die ich mir hätte vorstellen können. Aber auf keinen Fall mit Jonathan in der Hauptbesetzung. Ich versuchte ihn mit einer fröstelnden Ganzkörperbewegung abzuschütteln. Was ihn leider dazu veranlasste, seinen Arm um meine Schulter zu legen und zu fragen: „Ist dir kalt? Ich rücke gerne noch etwas näher.“ Ausgerechnet Jonathan. Ich schaute mich nach Rettung um, aber mein flehender Blick versank leider unerwidert in der dunklen Nacht, weil alle Richtung Manhattan starrten. Da ich keinen anderen Ausweg sah, sprang ich auf und hoffte, mit einer hektischen englischen Übersetzung von „Man soll immer gehen, wenn’s am schönsten ist“ Aufbruchstimmung zu erzeugen. Natürlich verstand niemand, was ich eigentlich sagen wollte. Einer Ratte sei Dank hüpfte kurz darauf auch Vanessa in die Höhe und schrie: „Uah, habt ihr die fette Ratte gesehen? Außerdem ist mir kalt. Lasst uns lieber wieder nachhause gehen.“
April
W AS MAN IN N EW Y ORK nicht haben darf, ist Zeit. Diese Theorie hatte sich mir in den letzten Monaten aufgedrängt. Wer zugibt, Zeit zu haben, macht sich geradezu verdächtig. Es käme einem Geständnis gleich. Womöglich war man ein Langweiler. Oder einfach nicht wichtig und erfolgreich genug. Besser kommt an, wer „stressed out“ ist und auf jeder Party tanzt. Stress ist so was wie ein Statussymbol. Auf die Frage „Wie geht’s?“ sagt ein New Yorker daher sehr oft „Good, but I am really, really busy“ – also sehr, sehr beschäftigt. Deshalb entledigt man sich zeitraubender Alltäglichkeiten bei jeder Gelegenheit. Man lässt seine dreckige Wäsche abholen und wieder sauber nachhause liefern. Man joggt mit Kinderwagen und Hund, so hat man gleich drei Pflichten auf einmal erledigt. Man bestellt Essen, statt zu kochen. Zeit ist in dieser Stadt alles. Das weiß jeder.
Auch mich beschlich langsam das Gefühl, dass ich davon ständig zu wenig hatte. Nicht, weil ich mich für wahnsinnig wichtig und unentbehrlich hielt. Aber es gab so viel zu tun! Das unerschöpfliche Angebot an Dingen, mit denen man seine Zeit verbringen konnte und wollte, stand in keinem Verhältnis zu der Zeit, die einem tatsächlich zur Verfügung stand. Irgendwo gab es immer eine Vernissage, ein Festival, eine Party, ein neues Theaterstück, ein Dinner, ein Konzert oder eine wichtige Museumsausstellung, die in den 500 Galerien, 200 Museen, 150 Theatern und 18 000Restaurants stattfanden. 2000 Kulturinstitute gaben sich die größte Mühe, die New Yorker rund um die Uhr zu beschäftigen. Und die Rede ist nicht von irgendwelchen Veranstaltungsorten, sondern von den Tempeln der Hochkultur, vom MoMA bis zur Metropolitan Opera, von der Carnegie Hall bis zum Broadway. In New York spielte, kochte, zeigte und geigte in allen Disziplinen die erste Liga. Bisher hatte es kein Ort der Welt auch nur annähernd geschafft, New York den Rang als Kulturhauptstadt abzulaufen. Einer Metropole, in der das Kulturgewerbe als viertgrößter Arbeitgeber jedes Jahr Milliardenumsätze abwirft. Die Anziehungskraft New Yorks ist eine Wechselwirkung aus dem Strom kreativer Menschen, die es magnetisch herzieht, und den Kopfgeburten, die hier täglich das Licht der Welt erblicken. New York ist der Tatort, an dem der britische Sänger David Bowie seine Hits kreiert, der Regisseur Woody Allen
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