Ein Jahr in New York
trotzdem.“
Natürlich. Auf keinen Fall würde ich mir Valeries Premiere entgehen lassen. Das erste Mal, dass ich meine Mitbewohnerin auf der Bühne erleben würde. „Not Dead Yet“ hieß das Stück, eine politische Satire, und Valerie spielte einen Cowboy.
„Kannst du mir noch mal kurz erläutern, worum es konkret geht?“, fragte ich Valerie, die mit Lockenwicklern im Haar am Tisch saß und ihren Marmeladentoast knusperte, während ich vorm Herd stand und gefrorene Beeren in mein „Oatmeal“ rührte. Die Suche nach adäquatem Vollkornbrot hatte ich mittlerweile aufgegeben. Stattdessen aß ich jetzt fast jeden Morgen gekochten Haferschleim. Meiner Meinung nach die gesündeste Option unter den amerikanische Frühstückalternativen Waffeln, Pancakes, Bageln oder Eiern.
„Ich will dir nicht zu viel verraten. Es geht um politische Manipulation und den amerikanischen Mythos des starken Cowboys, mit dem wir aufräumen wollen. Du wirst dich auf jeden Fall amüsieren“, antwortete Val, die dazu übergegangen war, ihr Frühstücksgeschirr abzuspülen. Dazu trug sie wie immer zwei pinkfarbene Plastikhandschuhe, kreiste mit der Bürste zweimal grob über den Teller, ließ das Wasser drübertröpfeln und stellte ihn zum Trocknen in die Halterung. Nach einem Leben mit Einweggeschirr konnte ich bei ihr keine deutsche Reinlichkeit erwarten. Nicht, dass ich darauf stolz gewesen wäre, dass wir Deutschen uns in Europa an die Spitze des Reinigungsmittelverbrauches geputzt hatten. Und ich würde auch nicht behaupten, dass ich einen Sauberkeitsfimmel habe, aber die hygienischen Zustände in unserem Kühlschrank nahmen teils bedenklicheFormen an. Valeries Ernährung hinterließ Spuren. Überall. Auch jetzt. Sie stand auf, und zurück blieben Toastkrümel und ein Marmeladenfleck auf dem Küchentisch.
„Ich kann immer noch nicht glauben, dass ihr das Stück wochenlang geprobt habt und nichts daran verdienen werdet!“, rief ich in Richtung Badezimmer. „Wenn wir Glück haben, spielen wir so gerade die Unkosten ein. Theater ist eine brotlose Kunst, und Schauspieler sind offensichtlich so egozentrisch, dass sie für den Applaus des Publikums sogar umsonst schuften und nebenbei kellnern gehen“, seufzte sie.
Um acht Uhr würde sich der Vorhang im „La Mama“ im East Village heben. Ein Experimentaler Theater-Club – so stand es auf der Website. „Das La Mama gibt’s schon ewig, ist so eine typische East-Village-Institution“, erklärte Val. Ich hatte noch exakt acht Stunden, um zu duschen, mich mit Noelle in dem Atelier ihrer Schwester in SoHo zu treffen, danach ein paar Ausstellungen im Galerien-Viertel Chelsea zu besuchen und wieder nach Williamsburg zurückzukehren, um anschließend mit der U-Bahn ins East Village zum Theater zu fahren. Ich hatte es ja schon beim Aufstehen geahnt: Ich musste mich beeilen.
Eine weibliche Stimme schepperte verzerrt durch die Lautsprecher. Ohrenbetäubend, und ich verstand trotzdem kein Wort. Ich schaute die Leute um mich herum an und fand genauso große Fragezeichen in deren Gesichtern wie in meinem. „Ich glaube, das sollte heißen, dass der L-Train heute nicht in Richtung Manhattan fährt, sondern nur in Brooklyn“, mutmaßte die Frau neben mir. Wie ärgerlich. Wie immer hatte ich nicht auf die Anschläge mit den Fahrplanänderungen geschaut. Ich rannte die Treppen wieder hoch, raste die Bedford Avenue zurück, vorbei an der South3 rd , Richtung Süden zum J-, M-, Z-Train. Gut, dass es wenigstens eine alternative Manhattan-Anbindung gab, dachte ich. Sonst würde ich jetzt in Brooklyn festsitzen und müsste mich von meinem Kulturprogramm verabschieden. Diese gelegentlichen Verkehrsstörungen kamen immer ungelegen, aber beschweren durfte sich im Prinzip niemand. Schließlich fuhren die U-Bahnen 24 Stunden, jeden Tag. Irgendwann mussten die Instandhaltungsreparaturen ja durchgeführt werden. Aber warum ausgerechnet heute? So war ich schon eine halbe Stunde zu spät, bevor ich Brooklyn überhaupt verlassen hatte.
Mein deutscher Pünktlichkeitswahn hatte große Schwierigkeiten, sich hier anzupassen. Man war dem öffentlichen Verkehrssystem gnadenlos ausgeliefert. Zu spät kommen ließ sich einfach nicht verhindern. Die U-Bahn kam manchmal sofort und manchmal erst nach zwanzig Minuten. Wenn man dann noch umsteigen musste und das Gleiche noch mal passierte, war man, wenn man Pech hatte, vierzig Minuten später am Ankunftsort, als wenn man Glück gehabt hätte.
Und dieses Glück ließ
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