Ein Jahr in New York
Lebensqualität, von der bis heute alle profitieren.
„Diese hässlichen, riesigen Sozialbauten, die du gerade gesehen hast, als du mit der U-Bahn über die Williamsburg Bridge gefahren bist, und die das ganze Ufer des East River verschandeln, die haben wir Moses zu verdanken. Dafür hat er intakte Viertel mit kleinen Läden, Cafés und Nachbarschaftsgemeinden dem Erdboden gleichgemacht. Leute, die vorher ein soziales Netzwerk hatten und ihre Nachbarn kannten, mussten in diese sterilen, isolierten Wohntürme ziehen“, schnaubte Laura missbilligend, „wenn sie es sich danach überhaupt leisten konnten. Du kannst dir ja vorstellen, dass das allmählich zu einer sozialen Erosion und zu Rassentrennung, Arbeitslosigkeit und Kriminalität geführt hat.“ Ich hatte mich schon immer gefragt, wer auf die verrückte Idee gekommen war, das Ufer des East River mit diesen hässlich monotonen, roten Ziegelstein-Hochhäusern zu blockieren. Robert Moses also. Er hatte auch die beiden Highways zu verantworten, die die Insel von beiden Ufern trennte. Der „West Side Highway“ schirmte den Hudson River ab, der „FDR“ den East River.
Robert Moses bekanntestes Opfer war der historische Bahnhof Penn Station an der 7 th Avenue, Ecke 33. Straße. Ein wunderschönes, beeindruckendes Beaux-Arts-Meisterwerk, das aussah, als hätte man es aus Rom importiert. Der Abriss des massiven Bauwerkes begann 1963 und dauerte drei ganze Jahre. Die Trümmer der wunderschönen Baustruktur samt ihren Säulen, Karyatiden und Skulpturen verscharrte man kurzerhand im Brachland von New Jersey. An seine Stelle trat ein charakterloser, bis heute von allen New Yorkern verhasster Sechzigerjahre-Bau. Die ganze Stadt war schockiert. Die New York Times schrieb damals: „Bis zumletzten Augenblick hat niemand glauben können, dass der Penn Station Bahnhof wirklich vernichtet werden und dass New York diesen Akt des Vandalismus gegen eine der wunderbarsten Sehenswürdigkeiten unserer Zeit zulassen würde.“ Doch was seine Mitbürger dachten, war dem rücksichtslosen Visionär ziemlich egal. Moses’ Mission war die Modernisierung New Yorks. Eine Megalopolis im Sinne des Pariser Modells von Le Corbusier. Fortschritt setzte er über die Interessen der einzelnen New Yorker. Zu seinen größten Leidenschaften zählten Automobile, die er schon damals für die Zukunft hielt. So hinterließ er 627 Meilen Autobahn. Und das, obwohl er selbst nicht mal Auto fahren konnte. Er ließ sich chauffieren. Seine Vision für New York war die „Urbane Erneuerung“. Ein Netz aus gigantischen modernen Glastürmen und Autobahnen, ohne Rücksicht auf gewachsene historische Strukturen und das den New Yorkern so wichtige „Streetlife“. Er war bereit, die kleinen Straßenblöcke mit ihren Brownstones, die Neighborhoods und das vielfältige Leben auf dem Bürgersteig zu zertrümmern.
„Wow, Laura, was du alles weißt!“, sagte Noelle zu ihrer Schwester. „Und wie ist es dazu gekommen, dass Moses SoHo nicht plattgemacht hat?“
„Das haben wir einer Schriftstellerin namens Jane Jacobs zu verdanken. Sie stand an der Spitze der Aktivisten und organisierte in SoHo vehement den Widerstand gegen Moses. Mit Erfolg. Es hätte auch schiefgehen können“, antwortete Laura. „Ihr wollt euch doch gleich noch ein paar Ausstellungen in Chelsea anschauen. Die ganzen Galerien dort hätte es vielleicht niemals gegeben, wenn SoHo damals dem Highway hätte weichen müssen.“
„Was hat Chelsea jetzt mit SoHo zu tun?“, sprach Noelle die Frage aus, die auch mir gerade auf der Zunge gelegen hatte.
„Na ja, SoHo war zwischen den Sechzigern und Neunzigern das eigentliche Mekka der New Yorker Kunstszene. Damals machten sich junge Kreative in den leerstehenden und zum Teil ziemlich heruntergekommenen Produktions- und Lagerstätten breit, die die Textilindustrie zurückgelassen hatte. Sie verwandelten die offenen Etagen der historischen Gebäude in riesige Lofts, großzügige Ateliers und Galerien. Hier feierten, wohnten, und kreierten tatendranghungrige Intellektuelle wie Yoko Ono, Joseph Beuys und Robert Rauschenberg ein Kapitel New Yorker Geschichte“, antwortet Laura. „Langweile ich euch eigentlich mit meinem kunsthistorischen Monolog?“
Überhaupt nicht. Ich fand das unglaublich interessant und wollte gern mehr hören. Schon wieder so eine Wissenslücke, die es zu schließen galt.
„Man erfand sich und ganz nebenbei auch die Kunst neu. Die Aktionskunst wurde geboren und das
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