Ein Jahr in Paris
dass die gleichnamige Kirche genau dort steht, wo sich nach 1789 jener Massenfriedhof befand, auf dem auch die guillotinierten Könige beerdigt wurden. Louis XVIII. hat dort später die Kirche bauen lassen, auf Bitten der Herzogin von Angoulême, der Tochter von Marie Antoinette und Louis XVI., die als Einzige der Familie das Prison du Temple überlebt hatte. Ihre Verwandtschaft am Wiener Hof hatte sie 1795 gegen 13 französische Kriegsgefangene freigekauft ...
„Wie bitte? Entschuldige, was hast du gesagt?“
„Nichts, war nicht so wichtig.“
Wir stehen vor der Madeleine. Um uns rauscht der Verkehr, gegenüber bei Fauchon verkaufen sie schwarze Trüffel zu einem Preis, von dem sich eine vierköpfige Familie in Saint-Denis locker einen Monat lang ernährt, und ich habe das Gefühl, etwas Wichtiges verpasst zu haben. Es ist Georgs letzter Abend, und wir werden, bis die Stewardess am Charles de Gaulle seinen Flug aufruft, keine Minute mehr wirklich allein sein.
„Hat es dir gefallen?“, frage ich ihn am nächsten Morgen. Ich weiß, dass er sich Mühe gegeben hat, meinetwegen. Trotzdem möchte ich jetzt natürlich hören, dass er nie gedacht hätte, dass Paris so schön ist, dass eine Baguette durchaus den Namen Brot verdient und die Franzosen viel weniger arrogant sind als vermutet. Aber ich bin auch nicht ganz ehrlich zu mir selbst. Im Grunde will ich eine Bestätigung dafür, dass ich alles richtig gemacht habe mit meiner Entscheidung. Aber den Gefallen tut Georg mir nicht, jedenfalls nicht sofort. „Lass mich mal ein bisschen darüber nachdenken“, sagt er. Ich schaue ihm nach, wie er hinter der Sperre verschwindet, und zurück bleibt plötzlich eine große Angst. Etwas ist anders geworden zwischen uns. Da sind diese Lücken im Alltag, die wir früher durch Erzählen geschlossen haben, die jetzt aber zu groß geworden sind. Es liegt so viel dazwischen. Nicht nur, dass der Raum den Abstand schafft, es liegt ein neues Leben dazwischen, mein neues Leben. In diesem Moment wird mir zum ersten Mal klar, dass ich mich irgendwann entscheiden muss, und wenn ich mich für Frankreich entscheide, wird das auch mein altes Leben unweigerlich verändern. Dann werde ich einen Teil davon verlieren im Austausch gegen das, was ich hier in Paris gewinne. Im Moment möchte ich alles haben, das Alte und das Neue. Aber ich weiß auch, dass das auf Dauer nicht geht.
Bevor ich mich jedoch allzu tief mit solchen Gedanken befassen kann, kommt Weihnachten. Ich habe vor, nach Hause zu fahren. Wie jedes Jahr. Warum sollte sich daran etwas ändern, nur weil ich jetzt in Paris wohne?
„Aber Mademoiselle, wir können ganz unmöglich auf Sie verzichten. Sie wissen, dass wir am 24. bis neunzehn Uhr geöffnet haben. Da brauchen wir jede Hand. Und Sie sind doch gerne bei uns, nicht wahr?“ Compris ?
Aber sicher, ich hab’s kapiert. Madame Abteilungsleiterin ist zufrieden. Warum sollte auch ausgerechnet die Jüngste der Abteilung, die weder Mann noch Kind vorweisen kann, zum Weihnachtsgeschäft frei bekommen. Dass das bedeutet, dass sie den Heiligen Abend mutterseelenallein in einer großen kalten Wohnung verbringen wird, ist Madame schnurzegal. Vermutlich denkt sie nicht einmal darüber nach. Was für sie zählt, ist der Jahresbonus.
Mich hingegen gruselt diese neue Aussicht kolossal. Ich habe Weihnachten noch nie allein verbracht. Doch wider Erwarten schlägt mir statt Mitleid eine Welle latenten Neides entgegen:
Alix: „Du weißt gar nicht, wie gut du es hast. Ich wäre verdammt froh, eine solche Ausrede für Weihnachten zu haben.“
Gaetano: „Seit zwanzig Jahren träume ich von so einer Gelegenheit. Ein Mal nur Weihnachten ohne Mamma, Flavia, Claudia, Fiametta, Valeria, Donatella und die Halbdebilen. 35 Du Glückspilz!“
Jean-Luc: „Hast du schon einmal drei Tage am Stück in einem ungeheizten Schloss zwischen lauter verfeindeten Stellungen verbracht, die zusammengenommen deine Familie darstellen?“
Nur Georg ist traurig. Schließlich gehörte es seit Jahren zum Weihnachtsabend dazu, dass wir uns zu später Stunde mit einer Flasche Haselnussgeist im Park trafen und in bitterer Kälte auf ein friedliches Jahr anstießen. „Vielleicht schaffe ich es Silvester“, versuche ich, uns beide zu trösten. Aber ich habe dabei einen dicken Kloß im Hals.
Die Sache wird nicht besser dadurch, dass die Pariser ausgemachte Weihnachtsmuffel sind. Kerzen, Adventskranz, Zimtsterne? Nicht doch. Alles geht seinen Gang bis zum
Weitere Kostenlose Bücher