Ein Jahr in Paris
Heiligen Abend, neunzehn Uhr. Also beschließe ich, Weihnachten in diesem Jahr zu ignorieren. Es wird nicht stattfinden. Ich werde an dem Abend wie immer nach der Arbeit mit heißen Knöcheln nach Hause kommen, werde ein Bad nehmen und mir dann mit Kater Paul vor dem Fernseher eine Pizza frutti di mare teilen. – Falls da nicht Thierry sitzt. Er macht nicht den Eindruck, als ob er ein Zuhause hätte. Davor graut mir ehrlich gesagt am allermeisten: Weihnachten allein mit Thierry und einem frischen Münsterkäse.
Dann ist er da, der 24. Dezember. Es ist grau und kalt und ein paar nasse Flocken, die am Boden sofort zu Schneematsch werden, fliegen durch die Luft, als ich mich auf den Weg zur Arbeit mache. Als ich in den Boulevard Haussmann einbiege, haben meine neuen Stiefel bereits hässliche Ränder. Meine Laune ist deutlich unter dem Gefrierpunkt. Aber mein Gesicht muss ja zur Dekoration passen, also setze ich ein Rauschgoldlächeln auf und schlüpfe in meine unversehrten Arbeitspantöffelchen. Ein großer Designer hat die Fassade unseresLuxustempels in ein rot leuchtendes Kettenhemd gesteckt und Rot ist natürlich auch innen die Farbe des Monats. Alles ist voller Schleifen und Glitter und ein beeindruckender Père Noël (in Wahrheit Jean-Marie, der den Einkauf leitet) zieht mit seinem Sack durch die Etagen, um gestresste Kinder zu beruhigen. Für unseren Bereich hat „Agent Provocateur“ die Deko gespendet. Meiner Meinung nach haben die rot-schwarzen Dominas nicht viel mit Weihnachten zu tun. Aber man weiß ja, dass am Fest der Liebe wenige Dinge so gut gehen wie Dessous. Père Noël lässt sich hier natürlich nicht blicken, dabei hätte ich gegen ein Stück Schokolade nichts einzuwenden gehabt.
In der Pause setze ich mich mit einem Tee in den Aufenthaltsraum und packe Alix’ Geschenk aus. Es lag heute früh auf dem Küchentisch, und ich bin viel zu neugierig, um bis zum Abend zu warten. Außerdem ist heute Abend ja nichts. Um mich herum herrscht blendende Laune. Die Weihnachtsfeier vor zwei Tagen hat alle in Hochstimmung versetzt. Die Direktorin verkündete das umsatzstärkste Jahr ihrer Amtszeit und unter besonders viel Applaus eine einmalige Prämie für alle. Anschließend wurden die drei besten Abteilungsleiter ausgezeichnet. Aber da waren die meisten mit ihren Gedanken schon beim Buffet und der Frage, ob Jean-Marie (der Père Noël ) und Jeanne aus der Buchhaltung in diesem Jahr endlich öffentlich zeigen würden, dass sie etwas miteinander hatten, oder nicht. Marie-Line hat es mir erklärt. Das Problem ist offenbar, dass Jean-Marie seine Scheidung nicht auf die Reihe bekommt. Aber was soll’s. Solche Geschichten kennt man von überallher.
Alix schenkt mir ein Exemplar von Anna Gavaldas Roman „Zusammen ist man weniger allein“. Dazu eine Karte: Es kommt auch immer darauf an, mit wem man zusammen ist. Joyeux Noël! Alix. Ein fettes Eselsohr verweist mich auf Seite213. Dort ist der Satz unterstrichen: „Il n’est pas de chagrin qu’un livre ne puisse consoler, ...“. 36
Ich bin sehr gerührt.
Gegen fünf, als die Büros schließen, geht es noch mal richtig los. Cadeaux dernière minute. Jetzt kommen die, die so gar keinen Plan haben. Hauptsache teuer, Hauptsache schön verpackt, Hauptsache so, dass sie glaubt, er habe seit Wochen an nichts anderes gedacht. Früher habe ich mich immer gefragt, an wen sich diese inflationär betriebene Dessous-Werbung, die zu Weihnachten von jeder Bushaltestelle leuchtet, richtet. Es ist natürlich die männliche Fantasie. Wie viel die mit der Realität zu tun hat, sieht man spätestens am 26. Dezember. Dann kommen die beschenkten Damen reihenweise zum Umtausch. „Er müsste wissen, dass ich Strings hasse. Ich trage nie welche. Wer weiß, was er sich dabei wieder gedacht hat.“ Nichts, Madame, er hat nichts gedacht. Eigentlich wollte er das Model von der Bushaltestelle. Dass Sie nicht Größe 34 tragen, ist nicht Ihre Schuld. – Aber vorher tut man natürlich sein Bestes, die Enttäuschung unter der Tanne abzuwenden.
Um acht bin ich draußen, unterm Arm das Buch und ein kleines Präsent, das Madame Abteilungsleiterin nach Kassenschluss an alle verteilt hat. Dem Gewicht nach schätze ich, dass es sich um ein Strumpfband handelt. Das ist natürlich nett gemeint, aber, seien wir ehrlich, jemandem wie Alix wäre damit hundertmal mehr gedient. Ich spüre einen Anflug von Selbstmitleid und konzentriere mich stattdessen darauf, meinem Programm zu folgen. Die Pizza
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