Ein Jahr in Paris
kaufe ich bei Lafayette, dazu eine sündhaft teure Flasche Rotwein. Der Schneeregen hat aufgehört, und zwischen all den Lichtern und Menschen erscheint mir der Abend fast schön.
Aber schon als ich aus dem Lift steige, sehe ich, dass Licht in der Wohnung brennt. Jetzt dringt auch laute Musik durch die Tür. Merde , denke ich. Thierry. So leise wie möglich schließe ich die Tür auf.
Aus der Küche kommt mir ein strahlender Jean-Luc entgegen. Im Wohnzimmer singt jemand laut und falsch zu einer jazzigen Version von „Mon beau sapin“ 37 , und es riecht gut.
„Was ist denn hier los?“
„Seuchenalarm auf Château Valencourt“, sagt Jean-Luc. „Meine kleine Nichte hat die Masern und Monsieur le médecin die Anreise aller weiteren Familienmitglieder strikt untersagt. Deshalb habe ich mir erlaubt, meinen Bruder mitzubringen. Er schmückt gerade den Weihnachtsbaum.“
Ich bin baff. Mit der halbaufgetauten Pizza unter dem Arm folge ich Jean-Luc in den Salon. „Und wo ist Thierry?“
„ Je n’en sais rien . Keine Ahnung, er ist hier nicht aufgetaucht. – Darf ich vorstellen: Mein Bruder Baptiste.“
„ Salut , wir sind uns ja schon einmal begegnet –“
Ja, sind wir. Im Bademantel. Heute trägt er allerdings einen schwarzen Cordanzug. Vor mir steht der Metal-Bruder mit dem prächtigen Tattoo.
„Oh, aber, ich dachte ...“ Ich kann ihm ja jetzt schlecht sagen, dass ich ihn für einen von Alix’ Liebhabern gehalten habe. Wie kommt mein braver Mitbewohner auch zu einem Heavy-Metal-Bruder?!
Jean-Luc ahnt eine Peinlichkeit heraufziehen. „Ach? Ihr kennt euch?“
„Wir hatten eine kurze Begegnung beim Frühstück. Das war, nachdem ich den Vortrag am I. U. F. M. gehalten hatte.“
„Ah, sehr richtig“, sagt Jean-Luc. Und zu mir: „Eigentlich wohnt er zurzeit in Meudon.“
Ich sage nichts und lächle. Der Pizzakarton hat mittlerweile feuchte Ränder.
„Ich schlage vor, ich kümmere mich wieder um das Essen und du hilfst Baptiste, den Baum zu schmücken. Wir mussten leider in allem etwas improvisieren.“
Jean-Luc verschwindet also in der Küche, und wir widmen uns der struppigen Tanne. Natürlich war so kurzfristig kein Schmuck mehr aufzutreiben, aber Alufolie tut es auch. Wir formen Girlanden und kleine Bälle, die wir mit Zwirnsfaden an die Zweige binden. Monoprix steuert die elektrischen Kerzen bei, und als alles fertig ist, zaubert Baptiste eine große Sprühdose hervor: „Et voilà – un flacon Magic Snow: la neige plus vraie que nature!“ Er hat deutlich mehr Humor als sein Bruder. Wir sprühen reichlich Kunstschnee auf unser Werk und küren es dann gemeinsam zu „Le Plus Laid Sapin du Monde“ .
Jean-Luc kommt mit einer Flasche Champagner, um auf den Baum anzustoßen. „Also, ich finde ihn gar nicht so hässlich. Dafür, dass er nur hundert Francs 38 gekostet hat. – Wir haben zwanzig Prozent Rabatt bekommen, weil es der Letzte war.“
„Was gibt es denn wohl zu essen?“, frage ich.
„Ah!“, ruft Baptiste. „ Le réveillon de Noël! Zu Tisch, Mesdames et Messieurs.“ Er bietet mir den Arm. Unter der Korblampe hat Jean-Luc festlich eingedeckt. Es gibt weiße Papierservietten und sogar die Bestecke passen zusammen. Radio France spielt Billie Holiday.
„Voilà!“ Jean-Luc balanciert eine große Platte vor sich her. „Das amuse-gueule entfällt. Wir beginnen direkt mit dem Hauptgang: grillierte Schenkel vom Bresse-Huhn mit einer Variation von pommes de terre an Endivienspitzen ...“
Baptiste unterbricht ihn: „ En bref : Hühnchen mit Pommes. Joyeux Noël!“
Wir sehen uns an, und mir wird auf einmal ganz warm im Bauch. Ich glaube, das kommt vom Wein.
Am nächsten Morgen erwacht Kater Paul im Salon nach süßen Träumen auf einem Pizzakarton Frutti di Mare. Neben ihm auf dem Sofa liegt ein vollständig bekleideter Thierry und schnarcht. Im Arm hält er ein großes, rosafarbenes Paket. Darin ist eine Puppe, die er seiner Tochter Mavie zu Weihnachten schenken wollte. Aber Sandrine, die Mutter der kleinen Mavie, hat ihn nicht einmal hereingelassen. Die halbe Nacht hat Thierry vor dem Mietshaus in Bobigny, in dem er selbst bis vor drei Monaten wohnte, im Auto verbracht. Irgendwann hat er angefangen, den Wein, den er für Sandrine mitgebracht hatte, selbst zu trinken. Wie er schließlich auf das Sofa gelangt ist, weiß man nicht so genau.
Im Zimmer schräg gegenüber teilen sich Jean-Luc und sein Bruder Baptiste ein für zwei eindeutig zu schmales Bett. Baptiste hat
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