Ein Jahr in Paris
Kapitel, in dem Saint-Denis besucht wird und der Prinz von Bourbon ein Geheimnis für sich behält. Madame Abteilungsleiterin durchkreuzt meine Pläne, und Jean-Luc hat eine besondere Überraschung.
Aufgabe des Monats: Weihnachten.
Erkenntnisse: Zusammen ist man weniger allein.
M ITTEN IN DIESES G EFÜHL HINEIN platzt Georg.
„Wie siehst du denn aus?!“ Es klingt nicht so wahnsinnig begeistert.
„Ich trage dir zu Ehren meine neue weiße Wintermütze, meinen neuen weißen Schal und ein Paar Lammfellstiefel, die, wie du dir denken kannst, ebenfalls neu sind. Was gibt es daran auszusetzen?“
„Na ja, von weitem könnte man dich für einen schneebedeckten Pilz halten. Aber wenn man das hier so trägt ...“
Ich versuche, das Ganze nur als einen weiteren Beweis dafür zu sehen, dass der deutsche Mann und das galante Kompliment eben zwei schwer vereinbare Dinge sind. Ein Franzose, da bin ich sicher, hätte Schöneres gesagt. Zum Beispiel wie gut mir Weiß steht, oder dass ich ein absolutes Mützengesicht habe. Aber Georg ist ja gerade erst angekommen, deshalb verzeihe ich ihm. Außerdem bin ich viel zu stolz auf meine neue Stadt. Im Dezember wird es auf den Straßen von Paris nie dunkel. Die großen Boulevards sind ein einzigesLichtermeer. Wir spazieren darin umher, und ich zeige Georg alles, was ich selbst in den vergangenen Monaten entdeckt habe.
Am Ronde Point steht ein kleiner, sorgfältig mit Kunstschnee besprühter Wald aus Tannenbäumen. Dort fotografieren wir Japaner dabei, wie sie sich gegenseitig mit ihren riesigen Einkaufstüten fotografieren. An einer Marktstraße kaufen wir rote Äpfel mit Sternschnuppen drauf und verfüttern sie an die Ponys in der Ménagerie des Jardin des Plantes. Schließlich sagt Georg: „Wo warst du noch nie? Ich finde, wir sollten an einen Ort fahren, den du auch noch nicht kennst.“
„Saint-Denis“, sage ich nach einer Weile. „Ich war noch nie in Saint-Denis.“
Mittlerweile ist Saint-Denis als finstere Banlieue in Verruf gekommen. Bei den großen Unruhen im Jahr 2005 gerieten auch hier Jugendliche mit der Polizei aneinander. In einer Nacht brannten über tausend Autos. Inzwischen ist wieder Ruhe eingekehrt und Schülerinnen und Schüler mit „Migrationshintergrund“ werden gerne an bürgerlichen Schulen aufgenommen. Nur ein oder zwei natürlich. Man möchte seinen Kindern ein wenig „französische Realität“ zeigen, aber bitte nicht zu viel davon.
Ich selbst wusste damals auch nicht viel über la petite couronne , die drei Départements der Banlieue mit der größten Einwohnerdichte Europas, zu denen auch Saint-Denis gehört. Sie spielen – vorausgesetzt, es brennt nichts – für den innerstädtischen Alltag von Paris genauso wenig eine Rolle wie Hellersdorf für Berlin, Wilhelmsburg für Hamburg oder Neuperlach für München. Abgesehen davon würde der Tourismusdirektor von Saint-Denis, wenn er hier zu Wort käme, ganz andere Dinge an seinem Ort betonen. Schließlich sind die Franzosen Meister im diplomatischen Umgehen von Problemen. Vom Stade de France würde er schwärmen, Frankreichs größtem Sportstadion, in dem 1998 das Finale derFußballweltmeisterschaft ausgetragen wurde, vom jährlichen Tulpenfest und natürlich von der Kathedrale.
Aber Tulpen wachsen im Dezember nicht und das Stade de France ist, als wir ankommen, geschlossen. Also kaufen wir uns eine Mecca-Cola 32 und machen uns auf zum größten Heiligtum der französischen Royalisten, der Kathedrale von Saint-Denis.
Eingefleischte Gotiker würden jetzt natürlich einwenden, dass die Königsgräber bloß eine Frage der Innenausstattung seien, die Basilika doch aber vor allem eine Inkunabel der Architekturgeschichte. Der erste Kirchenbau, der alle drei Elemente der Gotik – Spitzbogen, Strebepfeiler und Kreuzrippen – in sich vereint! Alles richtig, nur möchte ich Georg unbedingt die Geschichte vom Herzen des kleinen Bourbonenprinzen erzählen (zugegeben, ich habe sie aus dem Fundus von Jean-Luc). Eine echte Rokokostory mit Verschwörern, Doppelgängern und dunklen Geheimnissen, und wie immer kann man nur eine Geschichte erzählen und muss hundert andere mögliche beiseitelassen. 33
Es ist kalt auf den hölzernen Bänken und die harte Wintersonne dringt nur zart durch die bunten Glasfenster, von denen einige fast 900 Jahre alt sind. Irgendwo hinter uns knien die marmornen Statuen von Louis XVI. und Königin Marie Antoinette, den Eltern des kleinen Bourbonenprinzen, der einmal Louis
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