Ein Jahr in Paris
sofort.“
Es vergeht eine Viertelstunde, dann ist sie da, das Portable am Ohr, die Zigarette im Mundwinkel. Ich überlege, ob ich eingeschnappt sein soll, aber dann fällt mir Jean Seberg in „À bout de souffle“ ein, wie sie mit ihrem wunderschönen Akzent sagt: „Franzosen sagen immer ‚eine Sekunde‘, wenn sie meinen fünf Minuten.“
Tant pis , denke ich also, und einige Sekunden später besitze ich dieses unfassbare, nachtblaue Seidenkleid und diesewahnsinnig hohen Riemchenpumps, auf denen man keine zwanzig Meter weit kommt. „Wie eine Gazelle“, sagt Alix, und diesmal bin ich diejenige, die ihr kein Wort glaubt. Für den Friseur super-branché reicht es jetzt allerdings nicht mehr. Also muss Monsieur Marcel ran.
„Wie Jean Seberg“, sage ich, ohne nachzudenken, auf die Frage nach meinen „Vorstellungen“. Er weiß sofort, was ich meine. Klar, die 1960er, das war vermutlich seine Zeit. „ Ah oui , Mademoiselle Seberg“, sagt er. „Eine großartige Schauspielerin, selbst wenn man bedenkt, dass sie Amerikanerin war.“ Dann sagt er nichts mehr und macht sich ans Werk.
Die Frau mit dem jungenhaften „Coupe Seberg“, die anschließend die Rue du Rocher überquert, hat zwar meine Sachen an, davon abgesehen aber, erkenne ich sie nicht wieder. Sie hat alles getan, was Simone de Beauvoir verabscheuen würde, nur weil ihr Herz einen kleinen Hüpfer gemacht hat. Und dafür wird sie dann auch vom Leben zurechtgewiesen werden.
Gegen zehn war unsere Wohnung ziemlich voll. In der Küche hatten Thierry und seine „Kumpels“ Pierre und Laurent ganze Arbeit geleistet. Es gab unglaubliche Käsesorten, Pasteten mit Fisch und Fleisch und eine Wagenladung Petit Fours. Thierry war ganz in seinem Element. Er verwickelte Jean-Luc in ein Gespräch über Käse, während Pierre versuchte, Alix’ Freundinnen anzugraben, und Laurent mich. Er hatte einen Teller mit Petits Fours beladen und wedelte mit einer nougatbraun gestreiften Winzigkeit vor meinen Augen herum. „Dieses hier musst du probieren!“, rief er. „Ein Meisterwerk. Dieser Geschmack! Un grand opéra!“
Aber mir war nicht nach großer Oper. Am liebsten wäre ich überhaupt gegangen.
„Das ist Néné“, hatte er gesagt. Für einen Moment warich wie gelähmt. Überrumpelt starrte ich von meinen Zehn-Zentimeter-Absätzen hinab in ihre riesigen Rehaugen. Sie war winzig, zierlich, durch und durch französisch.
„Da hast du’s“, flüsterte Simone de Beauvoir an meiner Seite. „Ein Riesenaufstand für nichts und wieder nichts. So wird das nie was mit der Emanzipation.“
Ich fand ihre Argumentation nicht ganz klar, aber für eine Diskussion war jetzt nicht der richtige Augenblick. Baptiste hatte eine Freundin, und ich musste den Abend trotzdem so elegant wie möglich hinter mich bringen. Haltung bewahren war jetzt alles. Alix durchschaute die Situation sofort. Sie ließ einen Moment vom schönen Vladimir ab und kam auf uns zu. „Was für niedliche Schuhe!“, rief sie und zeigte auf Nénés silberne Pantoletten. „Tout à fait style Cendrillon.“ Und zu mir raunte sie: „Soll ich ihr ein laxatif in den Drink mixen? Aber ehrlich gesagt, bin ich nicht ganz sicher, ob er es wert ist.“ 41
Danke, Alix, dachte ich. Da war er wieder, dieser pariserische Hang zur Doppeldeutigkeit, der die Gemeinheit ebenso enthält wie das oberflächliche Kompliment und damit unantastbar ist: Cendrillon ist die französische Version vom Aschenputtel, und damit hatte Alix der anderen gleich mal klargemacht, wo hier der Hammer hing. Ich fühlte mich getröstet und beschloss, im Verlaufe des Abends meine gazellenartige Leichtigkeit voll und ganz zum Einsatz zu bringen. Ich trank Champagner aus langstieligen Gläsern, tanzte mit dem schönen Vladimir, den Alix mir ausgeliehen hatte, und hoffte auf Gaetano. Der erschien gegen elf in Begleitung eines glutäugigen Gaspard aus Marseille. Beide sahenhervorragend aus. Sie trugen schwarze Anzüge und Manschettenknöpfe, und ich war so mit meiner eigenen Enttäuschung beschäftigt, dass ich erst lange nach Mitternacht, als sie sich unter unserem Weihnachtsbaum küssten, kapierte, was los war.
„Bonne année!“ , sagte in diesem Moment jemand dicht hinter mir, während Alix das Glas zum Sturm auf La Défense hob und ich seine Hand in meinem Rücken spürte. „Wollen wir tanzen?“
Ich machte mich ein wenig steif. „Wo ist Néné?“
„Nach Hause gegangen. Ihr war nicht gut, sie hat wohl etwas Falsches gegessen.“ Mir
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