Ein Jahr in Paris
Briefe. Er fängt deine Besuche ab. Er kann dich so maßlos schikanieren, dass es besser ist, du ziehst aus, als einen vergeblichen Krieg zu führen, den du unweigerlich verlierst. Und von seinen Beziehungen zur Polizei will ich gar nicht sprechen. Doch, ich will davon sprechen. Eine mir befreundete Engländerin fand in ihrem „dossier“, in ihrem Aktenstück, das über alle Fremden und über alle wichtigen Franzosen auf der Polizei geführt wird, diese kleine Eintragung: „Empfängt viele Leute von Welt, schläft aber nur mit einem dekorierten Herrn ...“ folgte der Name. Für jeden Kenner war klar, woher diese Angabe stammte. Vom Hausmeister. Aus Glas sind deine Wände, dein Privatleben ist keines, er bringt es an den Tag. Hüte dich! Und gib ihm – und vor allem ihr – reichlich zu Weihnachten, zu Silvester und zu Neujahr. Es ist dein Vorteil; man kann nie wissen; hörst du die Butter auf deinem Kopf schmelzen?“ Peter Panter (Kurt Tucholsky), ca. 1927
43 „Mannomann“, würde der Deutsche hier sagen, „was ist denn mit dir los!“
Februar – Vitamin B für die Präfektur
10. Kapitel, das die Geschichte von Pawel und Lilli erzählt.
D ANN GING UNSER B OILER KAPUTT. Da er sicher hundert Jahre alt war, konnte man ihm keinen Vorwurf machen. Wir riefen Monsieur Jacques an. Er versprach, sich zu kümmern. Ein paar Tage lang duschten wir tapfer kalt, dann sagte Alix: „Cela suffit! J’en ai marre . Wir organisieren das selbst.“
„Und wer zahlt das?“, protestierte Jean-Luc, den ich im Verdacht hatte, gar nicht zu duschen. „Wer weiß, was da kaputt ist. Ich finde, wir warten noch eine Weile, vielleicht kommt es ja von selbst wieder in Ordnung.“ Mir fiel das ungeheizte Schloss ein. Und Baptiste. Ich hatte nichts mehr von ihm gehört. Aber ich hätte mir eher die Zunge abgebissen, als Jean-Luc nach ihm zu fragen. Ich arbeitete und litt ein wenig und hatte mich für die kommende Woche zu einem Yoga-Kurs angemeldet.
Alix unterdessen gab nicht nach.
„Thierry, was ist mit dir?“
„Ich bin Käseexperte und kein Klempner.“
„Aber du kennst doch sicher jemanden, der uns das schwarz machen kann.“
„Mal sehen“, versprach er. „Ich höre mich mal um.“
Kurz darauf stand Pawel in der Tür. Er trug abgewetzte Cordhosen und einen metallenen Werkzeugkasten und wirkte rundum vertrauenerweckend. Er murmelte etwas vonVentilen und Kalk und nach kurzer Zeit blubberte der Boiler wieder vor sich hin, als wäre nichts gewesen.
Der Schrei, der mich weckte, war markerschütternd. Er kam aus dem Bad. Es war Alix, und sie sah aus wie ein Hummer. Der Boiler hatte sie verbrüht.
Der verschüchterte Pawel, der bald darauf zum zweiten Mal auftauchte , sah ihr farblich nicht unähnlich, als er wortreich zu erklären versuchte, wie er unseren Jahrhundertboiler in eine Höllenmaschine verwandelt hatte.
„Wissen Sie, eigentlich bin ich Nationalökonom. Das ist das, was ich studiert habe. Aber da, wo ich herkomme, braucht man keine staatlich geprüften Nationalökonomen mehr. Das ist jetzt Privatsache. Das macht jetzt die Mafia.“ Er lachte. Aber es klang enttäuscht.
Pawel und Natalia Andruchowitsch, genannt Lilli, waren seit zwei Jahren verheiratet, als die Sowjetunion zerfiel und die Ukraine ein unabhängiger Staat wurde. Ein paar Jahre lang lief alles noch normal weiter, aber schließlich kam die neue Zeit auch in Charkow an. Pawels Institut wurde geschlossen und Natalias Gehalt als Lehrerin war plötzlich nur noch Pfennige wert. Als dann auch das Restaurant pleiteging, in dem Pawel seit seiner Entlassung gearbeitet hatte, wussten sie nicht weiter. Sie waren Anfang dreißig, und ihr Land brauchte sie nicht mehr. Von ihren gleichaltrigen Bekannten war kaum noch jemand da. Reihenweise wanderten die Jungen nach England, Amerika oder Deutschland aus. Und dann war da noch Kolja, ihr kleiner Sohn. „Welche Zukunft hätten wir ihm bieten können?“ Also bestieg Pawel am 31. Januar 1999 mit einem Touristenvisum in der Tasche den Bus, der ihn über Krakau und das Kirchheimer Dreieck nach Paris bringen würde. Geld für das Visum hatte er sich von den Schwiegereltern geliehen und am Gare Routière in Galliénisollte ein Landsmann, ein Freund von Bekannten der Nachbarn, auf ihn warten. Dann würde man weitersehen. Dass sie sich ausgerechnet für Paris entschieden hatten, lag letztlich an Ilja Metschnikov. Der wurde 1845 in Charkow geboren und erhielt 1908 als Direktor des Institut Pasteur für Forschungen
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