Ein Jahr in Paris
hätten wir die Bestechungsgelder, die nötig gewesen wären, nicht zusammengebracht.“ Zu viele Vielleichts, zumal die immer strengeren Einreisebestimmungen an den EU-Grenzen die Risiken und Kosten in die Höhe trieben. Auch deshalb gab es für die Andruchowitschs irgendwann nur noch ein Ziel: die carte de séjour .
„Vergesst es!“, lautete der allgemeine Kommentar, als sie sich vorsichtig umzuhören begannen, wie denn wohl die Chancen auf das begehrte Dokument seien. Aber so schnell wollte Lilli nicht aufgeben. Also machte sie sich auf den Wegzur Präfektur von Bobigny, die für ihren Antrag zuständig sein würde. Die Geschichten, die über diese Prozedur kursierten, waren alles andere als ermutigend, aber dass es so schlimm sein würde, hätte sie nie gedacht. Jeden Tag, von Montag bis Freitag, drängeln sich vor der Direction des Étrangers an der Esplanade Jean Moulin zwei Warteschlangen. Eine für Antragsteller mit Vorladung und eine für diejenigen, die keine haben. Eine Wartenummer brauchen alle. Chancen, vor Feierabend dranzukommen, hat aber nur, wer eine halbwegs niedrige Nummer zieht. Deshalb kommen die Ersten schon gegen fünf oder sechs Uhr morgens, um sich einen möglichst guten Platz am Eingang zu sichern. Manche schlafen sogar vor der Tür. Wenn dann die Direction des Étrangers um halb neun öffnet, drängeln sich auf der Esplanade vor dem abweisenden Betonklotz bereits Hunderte. Manchmal kommt es zu Streit und Schlägereien um einen guten Platz, manchmal bekommt jemand einen Heulkrampf, und man wundert sich, dass die kümmerlichen Büsche rundum noch nicht gelb geworden sind. Denn mit Toiletten ist es so eine Sache. Einmal hatten die Andruchowitschs eine convocation , eine Vorladung, für neun Uhr, kamen wegen des Gedränges aber nicht rechtzeitig durch. Als sie es endlich bis zur Schalterbeamtin geschafft hatten, teilte die ihnen ungerührt mit, dass es jetzt „ trop tard “ sei und sie es eben noch einmal neu versuchen müssten. Mehr als einmal saß Lilli nach solchen Tagen auf der Präfektur abends heulend auf ihrem Schlafsofa und war bereit aufzugeben. In diesen Momenten kam auch das Heimweh, aber sie wussten beide, dass es nur die Sehnsucht nach einem Land war, das es schon lange nicht mehr gab.
Sie haben durchgehalten, die Andruchowitschs, und irgendwann tatsächlich ein dickes Dossier zur Esplanade Jean Moulin getragen. Der Anwalt eines Hilfsvereins für illegale Immigranten hatte ihnen signalisiert, dass die Zeit jetzt politischgünstig sei. In dem Dossier waren alle Papiere, die man für den Einbürgerungsantrag braucht: gültige Personalausweise, Familienbuch, Stromquittungen der EDF und Rechnungen von France Télécom, die bewiesen, dass sie seit mindestens drei Monaten eine feste Bleibe hatten, Gesundheitszeugnisse sowie Nachweise über ein regelmäßiges Einkommen – von dem allen Beteiligten klar war, dass es nicht aus einem legalen Beschäftigungsverhältnis stammen konnte. Doch das war nicht das Wichtigste. Das Entscheidende waren die Empfehlungsschreiben französischer Freunde oder Bekannter. Die Direktorin von Koljas Schule hatte ebenso einen Brief beigesteuert wie der Gemeindepriester, der in warmen Tönen davon schrieb, wie wenig man der Familie ihre ukrainische Herkunft noch anmerken würde. So vorbildlich lebten sie das Leben französischer Staatsbürger. Eine von Lillis Arbeitgeberinnen bot auch an, sich direkt an die Behörden zu wenden. Sie war die Schwester eines hohen Ministerialbeamten, und als Lilli zögerte, weil es sich womöglich ungünstig auswirken würde, wenn ihre illegale Anstellung so offenkundig wäre, sagte ihre patronne nur: „Keine Sorge, meine Liebe. Was ist schon ein bisschen Schwarzarbeit gegen einen guten Schuss Vitamin B?“ Ohne das geht in Frankreich eben nichts.
Anschließend begann das bange Warten. Einerseits war die Situation nicht ungünstig, da Polizei und Ausländerbehörden gerade einmal wieder mit brutalen Abschiebeaktionen in die öffentliche Kritik geraten waren. Andererseits weiß man bei französischen Behörden eben nie, woran man ist, und wenn erst einmal eine negative Entscheidung getroffen wurde, ist jegliche Form von Protest oder Diskussion von vornherein sinnlos. In diesen Wochen dachte Pawel oft daran, wie es wäre, woanders noch einmal neu anfangen zu müssen. Er beobachtete sich selbst, wie er morgens mit seinen Kollegen an irgendeinem Tresen stand und seinen petit schwarz mitZucker herunterkippte, wie er mit Genuss
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