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Ein Jahr in Paris

Titel: Ein Jahr in Paris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silja Ukena
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auf dem Gebiet der Immunologie den Nobelpreis für Medizin. Wenn sich für ihn der Weg gelohnt hat, dachte Pawel, dann wird er das vielleicht auch für uns.
    Aber die ersten Wochen waren hart. Der Freund der Bekannten der Nachbarn brachte ihn in einer illegalen Wohngemeinschaft unter. Eine winzige Parterrewohnung, in der bereits fünf andere Ukrainer lebten. Einer von ihnen sagte Pawel, wenn er Arbeit suche, solle er es in der ukrainischen Kirche beim Boulevard Saint-Germain versuchen. Als er das erste Mal mit der Metro dorthin fuhr, stieg er extra eine Station zu früh aus und bummelte ein wenig durch die Straßen und träumte vor den Auslagen von all den Dingen, die er Lilli eines Tages schenken würde. Anschließend holte er sich wie jeden Tag seine Verpflegung bei einer Station der Restos du Cœur und versuchte, nicht allzu viel an seine kleine Familie daheim zu denken. Irgendwann hatte er Glück und jemand verschaffte ihm Kontakt zu einem polnischen Bauunternehmer, der ihn als Handlanger anstellte. 44 „Ich konnte ein bisschen von allem – etwas Elektrik, ein bisschen Sanitär, Malernund Maurern sowieso. Das war ihm gerade recht.“ Drei Monate später gelang es Pawel sogar, ein winziges Studio in einem Vorort im Osten von Paris zu ergattern. Weshalb der Vermieter nicht nach Papieren gefragt hat, ist Pawel bis heute ein Rätsel, aber es genügte, wenn er pünktlich jeden Monat zahlte.
    Jetzt konnte endlich auch Lilli nachkommen. Ihr Französisch war genauso schlecht wie Pawels, aber sie legte einen unglaublichen Ehrgeiz an den Tag. „Sie wollte es unbedingt schaffen, um so bald als möglich Kolja nachholen zu können.“ Erst jobbte sie als Putzfrau, dann – sobald sie sich einigermaßen verständigen konnte – zusätzlich als Kindermädchen. An manchen Tagen wussten sie vor Müdigkeit beide nicht, wie sie bis zum Abend durchhalten sollten, aber ein Zurück, so viel war klar, würde es nicht geben. „Der schönste Moment war, als Kolja endlich kommen konnte. Ich hatte ihn über ein Jahr lang nicht gesehen und manchmal schon Angst gehabt, er könnte mich nicht wiedererkennen.“
    Aber dann stellte sich heraus, dass der Kleine die wenigsten Probleme hatte, sich einzuleben. Sie fanden einen Platz in der école maternelle , und bald sprach Kolja fließend Französisch mit Vorstadtslang. „Das haben wir seiner Lehrerin zu verdanken. Sie hat alles dafür getan, dass unser Kind sich einlebt, und nicht ein Mal nach unserer Situation gefragt.“
    Das französische Paradox: „Eigentlich wussten alle, dass wir ohne Aufenthaltsgenehmigung im Land lebten – mein Chef, Natalias Arbeitgeber, unser Vermieter, die Betreuer in der Schule, die Nachbarn – aber nie hat jemand uns angeschwärzt oder ausgenutzt oder auch nur ein böses Wort fallen lassen.“ Das hat die Andruchowitschs zu mustergültigen Illegalen gemacht. Lilli besuchte den kostenlosen Sprachunterricht der Mairie und Pawel einen Computerkurs, der von Sozialarbeitern des Viertels angeboten wurde. Niemals bestiegen sie die Metro ohne ein gültiges Wochenticket, sie zahltenSteuern auf ihr schwarz verdientes Geld, blieben nie mit Miete, Strom oder Gas im Rückstand und eröffneten schließlich sogar ein eigenes Bankkonto. Auch hier fragte die Angestellte am Schalter nicht besonders nach, ihre Familie stammte aus Kamerun, und sie wusste, was es heißt, ein immigrant zu sein.
    Nicht alle hatten so viel Glück. Eine entfernte Cousine Lillis geriet an einen Mädchenhändlerring, der ihr das Geld für die Einreise „lieh“, und landete auf dem Straßenstrich in der Rue Myrha im 18. Arrondissement nahe des Gare du Nord. Und manche, von denen man hört, leben seit Jahren in den illegalen Unterkünften, wie sie Pawel nur aus der Anfangszeit kennt – manchmal sogar ohne Wasser, ohne Strom, ohne Heizung. Erwischt und abgeschoben wurde bislang selten jemand aus der Gemeinde der ukrainischen sans papiers . Was zum einen, so glaubt Pawel, daran liegt, dass die meisten sich möglichst unauffällig verhalten; zum anderen aber auch einfach daran, dass sie als Weiße selten ins Visier der Polizei geraten. Die hat sich bei ihren „Gesichtskontrollen“, den contrôles au faciès , vor allem auf Farbige und Araber spezialisiert.
    Trotzdem war die Angst immer da. Abschiebung, das war für sie das Ende aller Hoffnungen. Deshalb sind sie auch nie wieder bei ihren Familien in Charkow gewesen. „Vielleicht hätte man uns an der Grenze nicht wieder hereingelassen, vielleicht

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