Ein Jahr in Paris
wurde eiskalt vor Schreck. Ich suchte Alix’ Blick, sie grinste und winkte. Ich wäre am liebsten im Boden versunken.
Meine Rettung war der allgemeine Aufbruch. Ohne genau zu verstehen wie, fand ich mich plötzlich eingeklemmt zwischen Pierre und Laurent auf der Rückbank von Thierrys schepprigem Renault in Richtung La Défense. Irgendwie war der schöne Vladimir auf den Beifahrersitz geraten, von wo aus er melancholisch trunkene Handygespräche mit Russland führte. Pierre hatte eine Flasche Champagner zwischen den Knien und unterhielt sich über meinen Kopf hinweg mit Laurent. „Ich sag’ dir, die ist ganz wild auf mich. Aber die andere war auch nicht übel, die Kleine, die mit dem Tätowierten da war. Hast du ihre Brüste gesehen?!“ – „ Mais sûr “, kam es von der anderen Seite, „ une super jolie nana . Schade, dass sie schon abgehauen ist.“
Plötzlich durchfuhr mich eine Riesenwut. „Große Brüste! Ist das alles, woran ihr denken könnt?“
„ Oh là là “, murmelte Pierre, aber Laurent sah mich strahlend an. „Ganz und gar nicht. Du hast zum Beispiel ganz wunderschöne Beine. Da kommt keine Französin mit. Wie der Eiffelturm so lang.“ Er zupft an meinen Netzstrümpfen. Ich hatte es nicht vorgehabt, aber ich musste trotzdem lachen.
Baptiste sah ich erst wieder, als wir alle im 44. Stock standen und auf den großartigsten Ausblick aller Zeiten anstießen. Keine Ahnung, wie Alix es geschafft hatte, den Nachtwächter blind und taub zu bekommen, aber es war die Zeit von les étrennes 42 , und sie hatte vermutlich einige Francs springen lassen. „ Zut alors!“ Laurent, der offensichtlich beschlossen hatte, nicht mehr von meiner Seite zu weichen, pfiffanerkennend durch die Zähne. „Muss ja keine schlechte Partie sein, eure Alix, wenn das das Büro von ihrem Alten ist.“
„Vergiss es“, sagte ich. „Sie ist bereits enterbt. – Wie ich übrigens auch.“ Damit ließ ich ihn stehen und flüchtete auf den Rückzugsort aller Frauen in Not, die Toilette.
„Also, super jolie nana“ , ich warf der jungen Frau im Spiegel einen strengen Blick zu, „jetzt oder nie. Du gehst jetzt zu Baptiste, sagst, dass Alix seine Freundin vergiftet hat und dass es dir aber überhaupt nicht leidtut, weil er es absolut wert ist. Und dann sehen wir weiter. On y va.“
Unterwegs legte ich an der gut sortierten Vorstands-Hausbar, die jemand in der Wandvertäfelung entdeckt hatte, einen längeren Halt ein. So waren meine Schritte etwas unsicher, als ich – halb Gazelle, halb Eiffelturm – schließlich mit zwei Gin Tonic in der Hand auf Baptiste zusteuerte. Stumm starrten wir durch die bodenlangen Fenster in die schwindende Nacht hinein, die Lichter von Paris zu unseren Füßen. Irgendwo dort unten schlängelte sich das graue Band der Seine vorbei, irgendwo dort unten tanzten in weiter Ferne die Menschen auf den Champs Elysées – falls sie tanzten und nicht bloß betrunken waren – und irgendwo dort hinten würde bald die Sonne aufgehen.
„Du, Baptiste –“, es kostete mich alles. „Ich muss dir etwas sagen. Es ist so ...“
„Schsch. Nicht sprechen“, flüsterte er und zeigte in den Winterhimmel. „Siehst du den Großen Hund? Dort oben in der Mitte, das ist Sirius. Daneben ist Orion, und südlich davon der Hase. Wenn man ihn mit bloßem Auge so klar sehen kann wie heute, sollte man auf keinen Fall sprechen.“
Also schwiegen wir und tranken Gin Tonic, bis der neue Tag uns alle von glänzenden Nachtschwärmern in blass-erschöpfte Morgengestalten mit rissigem Make-up undgeröteten Augen verwandelt hatte. So begann mein neues Jahr in Paris mit einem ungebeichteten Kleinverbrechen und dem Gefühl, diesen Moment an keinem anderen Ort der Welt erleben zu wollen.
„Du, Gaetano, glaubst du an die Liebe auf den ersten Blick?“ Beiläufig kickte ich eine leere Champagnerflasche beiseite.
„ Oh là là, Mademoiselle “, er lachte, „für diese Frage sind Sie eigentlich fünfzehn Jahre zu alt.“
„Ehrlich gesagt, habe ich nicht das Gefühl, seit damals weitergekommen zu sein.“ Die Flasche kreiselte fröhlich um sich selbst.
„ Bon ! Also, ich glaube nicht daran. Es gibt Begehren auf den ersten Blick. Und wenn dann in einem von hundert Fällen mal mehr daraus wird, dann stellen die Leute sich hin und sprechen verzückt davon, es sei gleich die große Liebe gewesen.“
„Und Gaspard? Wie lange kennt ihr euch?“
„Drei Wochen ungefähr. Aber da gibt es nicht viel dran zu deuten. Du hast
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