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Ein Jahr in San Francisco

Ein Jahr in San Francisco

Titel: Ein Jahr in San Francisco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanni Bayers
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niemals alles auf ewig so bleibt, wie es gerade ist; eine Furcht, dass im Falle eines großen Bebens meine alltägliche Panoramawelt schwanken würde wie eine Nussschale auf den Wellen des Meers, dass Häuser aufbrechen würden, Straßen auseinanderreißen und Brücken in sich zusammensacken wie Pappmaschee. Führt das paradoxerweise dazu, dass mich San Francisco und die Vielseitigkeit seiner Natur und Menschen noch mehr begeistern? Habe ich deswegen hier das Gefühl, mein Leben intensiver zu leben? Oder geht es einem in der Fremde immer so?
    Als wir am Nachmittag am Leuchtturm von Point Reyes ankommen, bin ich erwartungsvoll wie ein Kind vor dem Weihnachtsfest. Schließlich hat Nick mir versprochen, dass wir die grauen Riesen beobachten können. Wir gehen die 308 Stufen zum Leuchtturm hinunter, der wider Erwarten nicht oben auf den Klippen thront, sondern klein und altersschwach am Fuße der Felsen in der untergehenden Sonne dahindämmert. Während ich die Stufen zähle, ertönt dasgleichmäßige Nebelhorn. Bereits seit 1870 trotzt er allen Wettern, und seine roten verwitterten Ziegel haben schon vielen Stürmen Widerstand bieten müssen. Diese Stelle ist als der windigste Punkt an der gesamten Westküste Kaliforniens bekannt – daher auch oft gesperrt. Doch wir haben Glück, er ist begehbar. Eine alte Dame im Pelzmantel schaut durch ihr Fernglas auf den Pazifik, ihre Haare wehen im Wind. Über uns rotiert das Leuchtturmlicht und wirft alle paar Sekunden einen matten Lichtschein auf das Meer. „Sie alle hoffen, Wale zu sehen“, sagt Nick. „Aber meistens bleibt es nur ein Wunsch.“ Am Leuchtturmhäuschen angekommen, stellen wir uns an das rostige Gitter und schauen aufs Meer hinaus. Über uns kreischen ein paar Möwen, als wollten sie die Grauwale herbeirufen. Nick nimmt meine Hand, die bereits schon wieder friert, und holt sie zu sich in die Jackentasche. Ich spüre wie seine warmen Finger meine Hand umschließen. „Wir werden wahrscheinlich etwas warten müssen“, sagt er. Mit der freien Hand ziehe ich meine warme Wachsjacke ganz zu. Die andere Hand will ich jetzt lieber nicht mehr bewegen aus Angst, dass Nick sie sonst loslassen könnte. „Es war so beeindruckend, als ich zum ersten Mal die großen Meeressäuger gesehen habe. Wusstest du, dass San Francisco bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts die Hauptstadt des Walfangs gewesen ist?“ Ich will gerade antworten, da spricht er auch schon weiter. „Die Jäger hatten es von hier aus nicht weit bis zum Ozean. Damals waren die Walfänger ganz scharf auf das tierische Öl. Doch als dann das Kerosin aufkam, ging die Nachfrage nach dem kostbaren Fett zurück.“
    Während die Sonne vor uns gemächlich am Horizont des Pazifiks versinkt und das Kräuseln der Wellen immer dunkler wird, sehe ich auf einmal in mehreren hundert Metern Entfernung eine Wasserfontäne aus dem Wasser aufspritzen. Ist das möglich? Die Wale sind da! Unmittelbarvor uns müssen sie sein. Sie sind in Schwärmen unterwegs, und alle paar Sekunden spritzen jetzt Wasserfontänen in den Himmel. Manche wirken wie kleine Springbrunnen, andere wie feine Dunstwolken. Für einige Momente halte ich den Atem an. „Nick, sie sind da!“, rufe ich. In knapp hundert Metern Entfernung kann ich nun sogar den langen Rücken von einem der riesigen Meeressäuger erkennen: wie eine grau-schwarze Insel steigt er aus dem Meer herauf und gleitet in der bereits tief stehenden Sonne schwerelos im Wasser am Horizont dahin. Plötzlich: Eine metergroße Schwanzflosse, schwarz wie Schiefer, taucht für Sekunden aus dem Wasser auf und erhebt sich machtvoll über dem Ozean. Der Grauwal bewegt die Flosse, und die Wassermassen rinnen daran herunter. Ich halte die Luft an. Nick drückt meine Hand in der Jackentasche ganz fest. „Das Fontänen-Spektakel wiederholen sie bis zu acht Mal in Folge. Dann tauchen sie wieder mehrere Minuten lang ab“, flüstert er aufgeregt. Mit dem pfeifenden Wind kann ich ihn kaum verstehen. „Die Wale ziehen von den warmen Gewässern Mexikos nun hoch in die kalten, nahrungsreichen Gefilde Alaskas. Sie haben ihre Kälber dabei und schwimmen so nah am Ufer, um ihren Nachwuchs vor den weißen Haien zu schützen. In den Monaten Dezember bis Februar geht es dann wieder in den Süden.“ Noch nie in meinem Leben bin ich den Giganten des Meeres so nahe gewesen. Ich erwidere Nicks Händedruck. Er hat sein Versprechen gehalten.
Streifzug:
Werden Sie zum Entdecker!
    Nicht nur ein Ausflug in den Norden

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