Ein Jahr in San Francisco
und diskutierte lautstark mit ihrem Gesprächspartner. Plötzlich schaute sie sich hilfesuchend um: „Excuse me, honey! Kannst du mir vielleicht schnell einen Notizzettel leihen?“ Das konnte ich. Als sie ihr Telefonat beendet hatte, bedankte sie sich überschwänglich und lud uns beide auf einen Kaffee ein. Sie erzählte uns, sie arbeite für die Presseabteilung des Internet-Videoportals YouTube , schreibe Presseartikel und spreche auf PR-Veranstaltungen. Wir erwähnten, dass wir bisher fast nur Bekanntschaftenmit Europäern und Asiaten geschlossen hatten. „Das müssen wir ändern“, sagte sie lachend. „You should join a night out with my girlfriends.“ Wir sagten zu und konnten es kaum erwarten, einmal mit „echten Amerikanerinnen“ auszugehen. Nach einer wild durchzechten Partynacht kannten wir nicht nur all ihre American Girls , sondern auch alle Männerprobleme, die eine junge, weibliche San Franciscan haben kann. Vor ein paar Tagen hatte Sophia dann angeboten, mir bei der Wohnungssuche zu helfen und mir für den kommenden Samstag ein Apartment Hunt , also eine Apartmentsuche, verordnet. Weil sie bereits seit vielen Jahren in der Stadt lebte, hatte sie einige – wie sie sagte – connections und wollte mir helfen.
Ich sollte vielleicht erwähnen, wie positiv mich immer wieder die Unkompliziertheit überrascht, mit der man in San Francisco neue Freundschaften schließt. Womit ich keine oberflächlichen Bier-Verbrüderungen und Party-Kameradschaften meine. Nun gut, wir Deutschen pflegen ein etwas eigenwilliges Modell der Freundschaftsanbahnung. Nick hatte dazu einmal einen Vergleich gezogen, der leider der Wahrheit recht nahe kommt: Der Deutsche sei wie ein Igel, sagte er. Möglicherweise sei es des krauts innigster Wunsch, einen Freund zu finden, doch kann er dieses Bedürfnis einfach nicht zeigen. So geben sich Deutsche beim ersten Treffen in aller Regel betont distanziert. Lieber verteilen sie einen Stachel zu viel, als zu nett zu wirken. Erschwerend komme hinzu, dass der Deutsche das gefährliche Pingpong-Spiel zwischen „Du“ und „Sie“ spielen müsse, was jede Spontaneität erlahmen lasse und dazu führe, dass der Deutsche immer eine Nummer zu persönlich oder reserviert erscheine. Der Amerikaner hingegen gleiche einer Katze. Freudig schmiege er sich an jedermanns Bein und verbreite gute Stimmung. Weil es einfach schöner sei, in Gemeinschaft die Zeit totzuschlagen als alleine, zeige sich der Haus-Puma sozial,schnurre und passe sich der Gemeinschaft an. Doch von Natur aus sei er eher ein Einzelgänger auf dem Streben nach Glück und wolle Entscheidungen alleine und nicht im Rudel treffen.
Doch zurück zur Wohnungssuche – und der Hoffnung, dass sich Mari-Carmens Optimismus im Hinblick auf Sophias connections bestätigen würde. Am Samstagmorgen um neun klingelt es, und ich falle vor Schreck beinahe aus dem Bett. Verschlafen! Wie ein verkaterter Maulwurf hechte ich ins Bad, dann in das Chaos meines begehbaren Kleiderschranks (hier sind die sogenannten walk-in-closets gängig) und wieder in die Küche. In der Eile springe ich nur schnell in eine Jeans, einen leichten Fleece-Pullover und meine Lieblingsturnschuhe. Gestern Nacht hatte ich noch bis um eins mit Vijay in der Hidden Vine Bar gesessen, wo wir Namen für die Gesundheitsplattform gebrainstormt haben. Als wir nach einer Flasche Wein endlich einen gefunden hatten, zu dem auch noch eine Domain verfügbar war, tranken wir zwei weitere Gläser Rotwein: Healthquestion war geboren. Es hätte durchaus weniger Alkohol sein können, dröhnt mein Kopf ermahnend. Energiegeladen und topfit strahlt Sophia mir entgegen. Ich blinzele nur verschlafen aus der Tür. „You look great“, muss ich zugeben. Sie umarmt mich. „Thanks, honey!“
„Have a coffee, sweetie!“ Sie reicht mir einen weißen Pappbecher mit dem Emblem einer grünen Meerjungfrau. Starbucks! Auch in San Francisco sind fast alle dieser Café-Kette verfallen. „Ich war heute Morgen bereits neunzig Minuten beim Yoga – ich fühle mich wie neu geboren“, flötet sie mir für diese Uhrzeit viel zu gut gelaunt entgegen. Dieser extreme Sportfanatismus ist natürlich auch wieder so eine typisch amerikanische Art, denke ich mir im typischen Morgengroll. Die Unterschiede zwischen den Menschen sind oft viel deutlicher als in Deutschland: Entweder ist man sehrsportlich oder ein konditionsloser Pudding. Vertreter des Mittelmaßes sind hier rar gesät. Sophia gehört eindeutig zur ersten
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