Ein Jahr in San Francisco
Job viel am Aufbau irgendwelcher Märkte – was auch immer das bei euch Wirtschaftsleuten heißen mag“, sagt sie mit etwas ironischem Unterton, und ich muss lachen. In der Tat arbeite ich viel an Business-Plänen und Marktstrategien, aber so etwas im kompletten Alleingang zu verantworten wäre schon eine etwas andere Herausforderung. „Ich habe aber so etwas noch nie gemacht“, entgegne ich. „Ja, und?“, fragt Mari Carmen. „Meinst du, die Goldsucher hatten schon mal etwas ausgegraben, bevor sie die weite Reise nach San Francisco angetreten sind? Meinst du, dass ich schon mal irgendwas veröffentlicht habe, bevor ich entschieden habe, es in San Francisco zu versuchen?“
Es steckt Wahrheit in dem, was Mari Carmen sagt. Doch ich glaube, dass gerade für uns Deutsche das Einlassen auf den American Dream und das Einschlagen einer neuen Richtungeine gewisse Überwindung erfordert – ganz egal, ob es sich dabei um einen neuen Job, eine frische Liebe oder eine fremde Stadt handelt. Möglicherweise tragen wir einfach nicht diesen Grundoptimismus in uns, dieses blinde Vertrauen in die gute Wendung und die naive Sicherheit, dass schon alles gut werden wird. Der bekannte kalifornische Historiker Kevin Starr nennt dieses starke Glücksstreben the intensif ied pursuit of human happiness , also das verstärkte Streben nach Glück. Diese intensive Lebenslust haben die Einwohner San Franciscos trotz vieler gewaltiger Rückschläge eindrucksvoll bewiesen: als die Ureinwohner Kaliforniens, die Ohlone-Indianer, ihre Nächte tanzend unter dem Sternenhimmel verbrachten, obwohl sie den Einmarsch der Spanier befürchteten; als 1906 das große Erdbeben die Stadt komplett in Schutt und Asche legte und die Menschen unmittelbar danach in den Trümmern nach Töpfen suchten und auf der Straße Essen kochten; als aus dem Summer of Love ein LSD-geprägter Höllentrip wurde und wenig später der AIDS-Virus viele Menschen im Schwulenviertel Castro dahinraffte und sich die Bewohner in Freiwilligenorganisationen zusammentaten, um den Leidenden zu helfen. Jedes Mal vereinten die San Franciscans ihre Kräfte und erkämpften sich ihr Lebensglück zurück. Selbst, wenn das bedeutete, dass sie manchmal einfach ein bisschen mehr träumen mussten, um ihr Gleichgewicht wiederzufinden.
Das Wochenende darauf sitze ich bei Nick auf dem Beifahrersitz. Und zwar mächtig aufgeregt! Das Armaturenbrett seines klapprigen grünen Jeep Patriot ist in eine dicke graue Staubschicht gehüllt. Nick sieht müde aus, dunkle Ringe hängen unter seinen Augen. Auch die kleinen Augenfalten liegen tiefer als sonst. Er hat gestern Abend wohl auch etwas zu lange gefeiert. „Du siehst geschafft aus. Hast du die ganze Nacht getanzt?“ Ich kann einen leicht vorwurfsvollen Unterton nicht verbergen, obwohl ich ja selbst gestern nochrecht lange unterwegs gewesen bin. Er gefällt mir natürlich trotzdem, aber das denke ich mir nur. Mit der Sonnenbrille in den Haaren und seinem iPhone, aus dem er gerade Musik auswählt, finde ich ihn einfach umwerfend amerikanisch. Zumindest habe ich mir so immer den typischen Kalifornier vorgestellt: wie Nick mit seinem Kapuzenpullover, den Leinenshorts und den Flip-Flops. Umwerfend amerikanisch? So ein Schwachsinn. In Deutschland habe ich auch schon gut aussehende Männer gesehen. Aber da habe ich mir nie gedacht: Mann, ist der umwerfend deutsch.
„Feiern? Schön wär’s“, antwortet er. „Ich war mit ein paar Buddies (Freunden) einen Film im Sundance Kabuki anschauen. Danach musste ich noch für ein paar Stunden ins Büro. Gerade ist die Hölle los.“ – „Kabuki was?“, erkundige ich mich. „Im Sundance Kabuki Cinema findet gerade das Asian American Film Festival statt. Über zweihundert Filmemacher stellen ihre Werke vor. Das ist echt super!“ Nick dreht die Musik auf. „Aber nun freue ich mich auf unseren Trip.“Aus den Boxen tönt Green Day: „She’s a rebel – She’s a saint – She’s salt of the earth – And she’s dangerous …“ Oh ja, das bin ich bestimmt.
Zu der Zeit, als ich San Francisco nur von Post- und Weltkarten kannte, hatte ich mit der aufregenden Metropole – neben Mary Ann Singleton aus den „Stadtgeschichten“ – nur die Seehunde der Fisherman’s Wharf, die Hippies mit Blumen in den Haaren und die Cable Cars auf den Hügeln der Stadt verbunden. Außerdem kannte ich, wie wohl alle Deutschen, den Song „Mendocino“ von Michael Holm. „Wie weit ist Mendocino eigentlich von Point Reyes
Weitere Kostenlose Bücher