Ein Jahr in San Francisco
Camp sind super und ungefähr halb so lang.“ Sie muss es ja wissen! Ich würde statt Wanderpfaden auf Erdbebengebiet viel lieber die Wale sehen, denn von all den Erdstößen habe ich bereits gehört, auch von dem großen, das womöglich noch bevorsteht. Die Kalifornier nennen es nur Big One .
„Statistiken des kalifornischen seismographischen Institutes sagen voraus, dass bis zum Jahre 2032 mit einer Wahrscheinlichkeit von ungefähr 65 Prozent ein starkes Erdbeben die kalifornische Bevölkerung durchschütteln wird“, erklärt die Rangerin mit neutraler Stimme, während mir ein kalter Schauer über den Rücken läuft. Sie führt uns vor eine Karte. „Es wird mindestens eine Stärke von sieben auf der Richterskala erwartet“, fügt sie mit einer Ruhe hinzu, als würde sie mir gerade mitteilen, dass es gleich anfängt zu regnen. Dabei stürzen doch ab sieben Richtermagnituden Brücken ein, und Gebäude brechen zusammen. „Schaut mal hier! Die Welt besteht aus sieben großen Kontinentalplatten.“ Sie zieht die Platten mit den Fingern auf der Karte nach und deutet dann an, an welcher Stelle die beiden Erdplatten – die pazifische und die nordamerikanische – entlang ihrer Bruchstelle, der sogenannten San-Andreas-Fault, weiterhin in Bewegung sind. „Diese Spalte alleine ist um die tausend Kilometer lang.“ Aber das ist noch nicht alles. Die Erdbebengefahr wird noch zusätzlich verstärkt, denn San Francisco liegt auch nahe der Hayward-Fault, einer weiteren Verwerfungszone, wo sich die zwei Kontinentalplatten treffen. Ich stelle mir vor, wie die Spalten fortwährend aneinander vorbeischrammen, sich irgendwann verkanten und dann ruckartignach oben reißen und ein Erdbeben auslösen. Ich blicke zu Nick, doch der verzieht keine Miene. Die Vorsichtsmaßnahmen, die auf staatlicher und privater Ebene getroffen werden, sind nicht ansatzweise ausreichend. So hatte auch das letzte Beben 1989 mit einer Stärke von knapp sieben Richtermagnituden große Schäden in vielen flach gelegenen Teilen San Franciscos sowie in der East Bay verursacht. Sichtlich geschockt höre ich ihr weiter zu. „So, das wär’s. Jetzt lauft einmal den Earthquake Trail, da spaziert ihr direkt auf dem San-Andreas-Graben entlang“, sagt sie. Ich bin mittlerweile komplett verunsichert und werde die Vorstellung nicht los, dass die Rangerin sogar ein bisschen Genugtuung bei dem Gedanken empfindet, dass ich Feigling mich auf die Spalte begeben muss. Auf einmal empfinde ich den harten, robusten Steinweg unter mir nicht mehr als selbstverständlich, und bei dem Gedanken daran, dass ich über eine der weltweit aktivsten Erdbebenzonen laufe, setze ich vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Nick hingegen marschiert mit großen Schritten unternehmungslustig voraus und scheint völlig unbeeindruckt.
Nach wenigen Minuten stehen wir vor zwei Zaunstücken, die in der Mitte auseinandergebrochen und einige Meter voneinander getrennt sind. „Wow, look at that“, staunt Nick. Er zieht mich zu sich herüber vor eine Informationstafel, die neben den zwei Zaunstücken in den Weg gerammt ist: „Sie befinden sich nun auf der San-Andreas-Spalte. Beim San-Francisco-Erdbeben von 1906 wurde der Zaun vor Ihnen über sechs Meter weit auseinandergerissen.“ Wir schauen uns die Bilder unter dem Text an. Sie zeigen, wie Bauern 1906 notdürftige Zaunverbindungen errichteten, die verhindern sollten, dass das Vieh ausbricht. Andere Fotos lichten Häuser ab, die vollständig auseinanderbrachen, und eine Stadt, die zur Hälfte herunterbrannte: San Francisco nach dem großen Beben.
Angesichts dieser Geschichte und auch der allzeit latenten Gefahr bleibt den Kaliforniern gar keine andere Wahl, als mit lässiger Zuversicht zu reagieren. Ich muss daran denken, was ein amerikanischer Kollege einmal sagte, als ich ihn auf das große Erdbeben ansprach: „Wenn du Angst hast, dass das große Erdbeben kommt, nur weil ein paar Statistiken kursieren, dann kannst du genauso befürchten, dass ein Asteroid die Erde trifft und dich erschlägt.“ Damit war für ihn die Erdbebensorge begraben. Für mich allerdings fängt sie heute erst so richtig an. Ich nehme mir vor, nächste Woche erst einmal einen Feuerlöscher und ein Erdbeben-Überlebenspaket anzuschaffen, was ich mir dann beides unters Bett lege – man weiß ja nie. Allein bei dem Gedanken an die mögliche Katastrophe bildet sich ein dicker Kloß in meinem Hals. Ich weiß nicht, ob es Nick auch so geht. Es ist ein Gefühl, dass hier
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