Ein Jahr in San Francisco
entfernt?“, frage ich Nick, während ich die Landkarte von Kalifornien studiere. Nick blickt zu mir herüber und grinst. „Wieso? Knapp vier Stunden.“ Ich muss an den Song denken, und singend versuche ich zu übersetzen. „Mendocino, Mendocino, ich fahre jeden Tag nach Mendocino, an jeder Türklopfe ich an, doch keiner kennt mein Girl in Mendocino.“ Nick lacht. „Den Ort besuchen nur wenige Kalifornier. Wir wundern uns eher, dass die Deutschen auf ihrem Trip immer hoch in den Norden fahren wollen. Was wir heute machen, ist noch viel schöner als Mendocino – Highlight wird der Leuchtturm am Kap von Point Reyes.“ Die deutsche Wanderlust , meint er, werde er wohl nie verstehen.
Kaum haben wir die Golden Gate Bridge überquert, sind wir von Natur umgeben. Links von uns erheben sich die sturmzerzausten Klippenküsten aus den Tiefen des Pazifiks. Rechts erblicke ich turmhohe Redwood-Bäume und steile Hügellandschaften. Die Sonne blinzelt zwischen dem Grün der Zweige hervor. Vor uns verläuft die schmale kurvige Straße des Highway 1. Über uns erstrahlt der morgendliche Himmel noch blauer als der Pazifik. Dabei ist es März. In Deutschland herrscht zu dieser Zeit zumeist noch immer eine Eiseskälte, und man sieht wenig von der Sonne. Ich halte meine Handy-Kamera aus dem Fenster, schieße ein Foto und schicke es an meine Familie im kalten Deutschland: Viele Grüße aus dem Golden State !
Gemächlich fahren wir auf dem heute fast menschenleeren Highway 1 dahin, bis wir den Muir Beach erreichen und Nick auf dem Strandparkplatz zum Stehen kommt. „Erster Stopp“, sagt er und schaut mich unternehmenslustig an. „Wenn wir noch mal hierhin kommen, müssen wir uns das Muir Woods National Monument anschauen. Dort kann man die Redwood-Bäume bestaunen, die größten Lebewesen auf Erden mit über tausend Jahren auf dem Buckel.“ Er springt aus dem Wagen, läuft um das Auto herum und öffnet mir galant die Tür – noch bevor ich selbst dazu komme. „Heute habe ich allerdings andere Pläne mit dir“, lässt er verlauten und reicht mir die Hand. Wir gehen den kleinen Weg zum Strand hinunter, und vor uns öffnet sich die unendliche Weite des Pazifiks. Lediglich ein paar tapfere Surfer,die auf den Wellen schaukeln, leisten uns in der Ferne Gesellschaft – kleine bunte Punkte, die im blaugrünen Pazifik dahingleiten, immer auf der Suche nach dem nächsten Kick. Nick und ich laufen am Wasser entlang; dort, wo der Sand vom Trockenen ins Nasse übergeht und Reste von Algen sich um kleine Muscheln winden. Nur ein paar einsame Möwen schauen uns gelangweilt zu. Obwohl die Sonne sich blassgolden auf den Strand senkt, ist es kühl und windig – Nordkalifornien eben. Hier liegen die Durchschnittstemperaturen immer bei angenehmen 12 bis 18 Grad Celsius (was 53 bis 64 Grad Fahrenheit entspricht). Wenn einmal länger als zwei Tage südkalifornische Temperaturen herrschen, spricht jeder gleich von einer Hitzewelle.
„Es ist total schön hier“, sage ich und kann mich vom Anblick des Muir Beach kaum trennen. Diese Ruhe der Natur, die uns umgibt, obwohl wir die Stadt erst vor wenigen Minuten verlassen haben, beeindruckt mich. Sie lässt mich das Büro mit dem dazugehörigen Stress und auch die innerliche Aufregung um Nick vergessen. Ebenso verzieht sich für kurze Zeit meine Sorge, dass ich schleunigst ein neues Apartment finden muss. Ende April endet mein Mietvertrag in der Sutter Street. Ich hake mich bei Nick ein, und er zeigt aufs Meer. „Ich hoffe, dass ich dir Grauwale zeigen kann. Tausende von ihnen ziehen hier jedes Jahr vorbei“, sagt er nun ganz dicht an meinem Ohr. Der Ausblick auf Wale und Nicks Gesicht so nah an meinem Ohr schicken ein Kribbeln durch meinen ganzen Körper. „Ich kann es kaum erwarten“, antworte ich und gebe ihm einen flüchtigen Kuss. „Doch erst einmal stärken wir uns, und dann können wir am Bear Valley Visitor Center wandern gehen“, schlägt er vor und legt seinen Arm um meine Schultern.
Gesagt, getan. Nachdem wir uns in einem Café am Stinson Beach gestärkt haben, fahren wir weiter nach Olema, einem kleinen Ort unweit des Naturschutzgebiets Point Reyes.Im Besucherzentrum begrüßt uns eine blonde Rangerin in khakifarbenem Park-Outfit und gibt uns Empfehlungen für Wanderpfade. „Ihr solltet auf jeden Fall den Erdbebenwanderpfad, den Earthquake Trail , laufen. Weitere schöne Wege sind der Palomarin , mit 11,5 Meilen der längste von allen. Aber auch der Arch Rock und der Wildcat
Weitere Kostenlose Bücher