Ein Jahr in San Francisco
weiß-gelben Schimmer, und die Skyline der Stadt funkelte in der untergehenden Sonne wie verglimmende Glut. In den Parks der Stadt, in denen die Sonne durch die Baumwipfel der alten Eukalyptusbäume fällt, ist es ein gedämpft-erfrischendes Sonnenlicht, der Sonnenuntergang am Palace of Fine Arts hingegen mutet dicht und mystisch an. Selbst in längeren Nebelphasen während der Sommermonate gibt es Lichtblicke, zum Beispiel, wenn die Sonne während der Mittagszeit für einige Minuten durch die dicke Wolkenschicht hindurchdringt und die Bürotürme des Financial District in einen hellen Umhang hüllt. Wahrscheinlich sorgen auch alle diese Lichtvarianten für die kalifornische Besonnenheit, die wohl jederSan Franciscan in sich trägt und jeder Neunankömmling nach spätestens einem Tag in der Stadt absorbiert. Mich werden sie wohl nie aufhören zu faszinieren.
Obwohl Sophia sich keine Trauer anmerken lässt, spüre ich, dass ihr dieser Moment schwerfällt. Ab dem nächsten Wochenende erwarten sie statt idyllischen Panoramafahrten durch San Francisco mehrspurige Autobahnen in Los Angeles. „Das ist der einzige Ort, an dem man Bucht und Meer auf einmal sehen kann“, stellt Vijay auf einmal neben mir fest. „Na, hast du die Funkwelle aufgespürt? Das Beste ist, dass du dabei auf Indianerbrüsten stehst“, antworte ich und versuche, ein Lachen zu unterdrücken. Wenn Vijay ein bisschen Spanisch sprechen würde, wüsste er nämlich, dass der ursprüngliche Name der Twinpeaks von „Los Pechos de la Chola“, also der spanischen Bezeichnung für „Brüste des Indianermädchens“, abgeleitet ist. „No signal“, sagt er nur bedrückt und blickt auf die Stadt.
Am frühen Nachmittag kommen wir an die Fisherman’s Wharf und flanieren mit den Touristen den Pier entlang, an dem Straßenkünstler ihre Tricks und Zaubereien vorführen und kleine Kinder mit glänzenden Augen vor den Süßwarengeschäften stehen. „Ich brauche Zuckerwatte“, witzelt Alex und schleckt mit seiner Zunge an einer imaginären Zuckerbombe. Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen, doch schon reiht sich Alex in eine Schlange von schreienden Jungs vor einem Candy-Stand am Pier 39 ein und kauft sich einen Zuckerteufel. Samt dem Zuckerwatte leckenden Alex folgen wir lachenden Kinderstimmen zum Treffpunkt der Seerobben am bekannten Pier, an dem die dicken, grau glänzenden Tiere faul in der Sonne auf den Anlegeplateaus liegen. Touristen lehnen sich über den Holzzaun und fallen beim Versuch, ein Foto zu schießen, fast ins Hafenbecken, während zwei dicke Seelöwen lautstark um ein Stückchen Liegefläche auf dem umkämpften Platz streiten. Die anderenTiere dösen teilnahmslos in der Sonne vor sich hin. Alex kommt auf die glorreiche Idee, die Robben mit Zuckerwatte zu füttern. Doch bekanntlich lässt sich Watte schwer werfen, und beim dritten Versuch fällt ihm der gesamte Zuckertraum mit Stiel ins Hafenbecken.
Als wir nach Alex gescheitertem Fütterungsexperiment wieder im Auto sitzen, bekommen auch Sophia, Rose und ich Lust auf Süßes. „Die Ghiradelli-Eisdiele ist doch gar nicht so weit weg“, fällt Rose ein. „Oh, ja. Das Eis ist super. Let’s do it!“, ruft Sophia und macht kurzerhand an der Kreuzung einen U-Turn mit quietschenden Reifen Richtung Eisdiele. Wir bestellen schließlich dreimal Mint Chocolate Sundae , und Sophia fürchtet unmittelbar um ihre Figur. „Ganz schön viele Kalorien“, meint Sophia reumütig, während unsere Waffeln mit mintgrünen Eiskugeln befüllt werden. „Ach, ein paar love pounds machen doch nichts aus“, kommentiert Rose. „ Love pounds ?“, frage ich. Noch immer kenne ich viele amerikanische Vokabeln und umgangssprachliche Begriffe nicht. „Wenn du dein Liebesleben mit deiner neuen Flamme einfach nur in vollen Zügen genießt“, erklärt Sophia. „Wir haben nur das Wort Kummerspeck, was übersetzt grief bacon lautet“, erkläre ich, und Sophia lacht. „Ihr Deutschen seid echt kurios. Ihr seid solche negative Nancies .“
Schließlich drängt Sophia zum Aufbruch. Abends will sie sich noch mit anderen Freunden treffen. Zurück im Auto, dreht sie die Musik auf. „Leute, zum Abschluss habe ich einen richtig schönen cheesy Song für euch“, warnt sie uns vor. „Wake me up in San Francisco … to the place that I’ve been dreaming of, San Francisco ...“ von Cascada dröhnt aus den Boxen. Und während Vijay den Song ausbuht und sich die Ohren zuhält, wiegt Sophia ihren Kopf im Takt der Musik.
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