Ein Jahr in San Francisco
noch: Nick hat zum Gegenschlag angesetzt, er entdeckte seine Liebe für das Klettern wieder und fährt am Wochenende mit seinen Kumpels in die Kletterhalle Mission Cliffs oder an die Felshänge des Mount Shasta außerhalb von San Francisco. Unsere Beziehung – wenn man es überhaupt so nennen kann – plätschert vor sich hin, wirklich optimistisch bin ich nicht. Doch anstatt mich damit auseinanderzusetzen, fahre ich lieber die Verdrängungsstrategie. Ganz bestimmt wird schon wieder alles gut – schließlich habe ich doch in den USA gelernt, die Dinge möglichst positiv zu sehen.
„How is it going?“ Die Wohnzimmertür geht auf und Charles steht verschwitzt im Türrahmen. „Viel zu tun“, antworte ich knapp. Charles wirft seine Sporttasche im Flur auf den Boden. Ein leichter Schweißgeruch weht zu mir herüber, als er an mir vorbei in die Küche geht. Dort wirft er lautstark den Mixer an, um sich einen Eiweißdrink zuzubereiten. Die Proteinschleuder röhrt auf voller Lautstärke. „Ich hab heut Abend ein kleines Winetasting hier!“, ruft er. Dann ein klirrendes Geräusch. Kurze Pause. „Mmh, tasty“, schmatzt Charles. „Du bist natürlich herzlich eingeladen.“ – „Danke, das ist lieb, aber für heute bin ich raus. Ich habe noch so viel zu tun. Meine Familie kommt doch am Wochenende.“ – „Alles klar. Familie geht immer vor. Dann störe ich dich mal nicht weiter.“
Meine Mutter und meine Tante haben sich für einen Besuch angekündigt, und ich kann es kaum erwarten, die beiden hier zu empfangen. „Wenn du doch dazukommen magst, sehr gerne“, fügt Charles hinzu. „Vielen Dank – ich gebe dir Bescheid“, sage ich und hätte wirklich Lust. Dass Charles und ich uns einmal so gut verstehen würden, hätte ich bei unserer ersten Begegnung auf dem Hausdach nicht erwartet. Man kann meinen Mitbewohner als waschechten San-Francisco-Lebenskünstler bezeichnen – der zugegebenermaßen seinen Traum erfolgreich in die Tat umgesetzt hat. „Ich bin in der Bay Area aufgewachsen, aber dann mit achtzehn nach New York gegangen. Dort habe ich als DJ ein paar Jahre aufgelegt. Als es mir zu viel wurde, habe ich auf Koch umgeschult. Na ja, und schließlich lag das mit der Weincompany ziemlich nah – Weine haben mich schon immer fasziniert“, erzählte er mir kurz nach meinem Einzug bei unserem ersten gemeinsamen Abendessen. Solch ein sprunghafter Lebenslauf, wie Charles ihn hat, ist für viele Kalifornier völlig normal; im sich immer wieder neu erschaffenden San Francisco, das sich – wie Phönix aus der Asche – selbst aus der Misere zieht, sowieso. Vom Unternehmensberater zum Koch, vom Inhaber eines Friseursalons zum hippen Restaurantbesitzer oder vom Obdachlosen zum Schriftsteller und Papageien-Mann – kein Problem! Letzteres hat Mark Bittner, bekannt als der Parrot Man und Autor des Bestsellers „The Wild Parrots of Telegraph Hill“, eindrucksvoll bewiesen.
Die Tage bis zur Ankunft meiner Familie vergehen schnell. Fast zu schnell. Denn als mir Samstagnachmittag bewusst wird, dass sie heute Abend eintreffen, ist unser Kühlschrank komplett leer. Auch mental bin ich noch nicht so wirklich für Mom und Tante Rita gerüstet, obwohl die beiden mich bereits seit Wochen auf ihre Ankunft vorbereiten. Mit Mails,Anrufen und SMS haben sie mich mit ihren Fragen zur bevorstehenden Kalifornienreise gelöchert. Mein Vater sagte, dass die beiden über gar nichts anderes mehr sprechen würden.
Nachdem ich den ganzen Samstag damit verbracht habe, Betten zu beziehen, zu putzen und aufzuräumen, klingelt es. Durch den kleinen Bildschirm unserer Türanlage sehe ich das aufgeregte Gesicht meiner Mutter. Dahinter Tante Rita, die wild-fuchtelnd mit der Kamera in der Hand vor dem Zaun hin- und herrennt. Und dahinter ein phänomenaler Blick auf die Bucht von San Francisco. „Hallo, Schatzi, wir sind es. Machst du uns auf?“ Voll bepackt stehen die beiden ein paar Minuten später in der Wohnungstür. „Anscheinend ist euer Aufzug kaputt“, hechelt mir Tante Rita entgegen. Wir mussten ... puuuuh …“, sie stöhnt, „… alle Koffer hochschleppen.“ Gut möglich, dass der Aufzug mal wieder versagt, die Bauweise und Funktionalität der Häuser in der Stadt entspricht eher den Standards aus den Sechzigerjahren. Charles scherzt hin und wieder, viele Vermieter würden mit der Renovierung lieber bis zum nächsten Erdbeben warten – dann würde es sich wenigstens lohnen. Ich nehme die schweren Koffer und Taschen in
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