Ein Jahr in San Francisco
Empfang. Über Ritas kräftigem Busen wippt die große neue Spiegelreflexkamera. Rita lächelt glücklich und schließt mich in ihre Arme. Dann ist meine Mutter dran, ich verberge meine Nase in ihren Haaren und rieche Heimat, unser Haus und ihr Shampoo. Ich drücke ihr einen dicken Kuss auf die Wange.
„Kommt rein. Schön, dass ihr da seid.“ Am liebsten würde ich anfangen zu weinen. Es tut so gut, endlich einmal wieder mit Menschen zusammen zu sein, mit denen ich mein ganzes Leben lang schon eng verbunden bin, mit denen ich viele Erlebnisse und Stunden geteilt habe und deren Reaktionen und Verhaltensweisen ich fast sekundengenau voraussagen kann. So wie jetzt. Kaum hat Rita ihrenFuß in der Tür, inspiziert sie schon kritisch den Türrahmen, klopft gegen die Wand und behauptet, diese Bauweise dürfe so eigentlich nicht zugelassen werden – wenn das ein deutscher Bauherr sähe ... Meine Mutter hingegen schaut mich nur an, und fast ein bisschen vorwurfsvoll bemerkt sie: „Kind, du siehst ja soo amerikanisch aus – fein geschminkt und sogar die Nägel gemacht. Aber dich aus dem Jogginganzug zu pellen, das hast du wohl nicht mehr geschafft.“ Ein schneller Blick in den Spiegel, und ich gebe ihr recht. „Sorry, ich habe in der Putzeuphorie komplett vergessen, mich umzuziehen“, antworte ich, doch da strömen Rita und Mom (irgendwie hatte ich mir von Charles das amerikanische „Mom“ abgeguckt) auch schon durch die Wohnung wie Ameisen bei der Arbeit, rufen „ah“ und „oh“ und „och – wie schön“ und verteilen innerhalb kürzester Zeit ihre Habseligkeiten in meinen vier Wänden auf den Hügeln San Franciscos.
„Hanni, jetzt hab ich es ganz vergessen.“ – „Was denn?“ – „Wir haben dir doch noch etwas mitgebracht. Du kriegst doch hier bestimmt nur Pommes und Burger.“ Meine Mutter breitet ihre Mitbringsel aus: ein Paket Schwarzbrot, eine Tüte Gummibärchen, hauseigene Himbeermarmelade, zwei Packungen Kekse und die Zeitschrift BUNTE. „Lediglich die hausgemachte Leberwurst von Peters Schweinen durften wir nicht einführen“, sagt sie leidvoll. Ich bin allerdings ganz froh darüber, denn dieser grobstückigen Wurst meines Onkels konnte ich noch nie etwas abgewinnen.
Nun also Familienglück: Ein paar gemeinsame Tage haben wir in San Francisco, dann gehen die beiden alleine auf Tour. Genauer gesagt, sie reisen auf den Spuren ihrer deutschen Landsleute, dem German Loop . Damit bezeichnen die Amerikaner die klassische Reiseroute der Deutschen entlang der amerikanischen Westküste, die mit ihren Stationen in Nord- und Südkalifornien und den Highlights vonNevada der Form eines Kringels sehr nahekommt. Für heute allerdings fällt mein Besuch nach der anstrengenden Anreise und einer Flasche Rotwein, die Charles uns noch kredenzt hat, schon um zehn Uhr ins Bett. Wenig später schließe ich mich an und mache es mir, so gut es eben geht, auf Charles Luftmatratze im Wohnzimmer gemütlich.
Mitten in der Nacht werde ich von lauten Geräuschen geweckt. Schlaftrunken schlüpfe ich in meine Hausschuhe, ziehe mir einen Pulli über und schlurfe in mein Zimmer. Da sitzen Rita und Mom zwischen ihren Koffern und Klamotten und gackern vor sich hin. „Oh, Herzchen, waren wir zu laut? Deine Mutter hat aber auch so ein Organ.“ Typisch Rita, das macht sie gerne, die Schuld auf andere schieben. „Wir konnten nicht mehr schlafen und haben uns ein bisschen sortiert“, ergänzt Mom. „Leise seid ihr nicht gerade!“ Dann fällt mein Blick auf den farbenfrohen Klamottenberg, der sich zwischen den beiden auftürmt: leichte Sommer-Shirts, kurze Hosen, ein paar Röcke. „Mom, sind die paar Kleidchen alles, was ihr dabei habt?“ Rita mustert gewissenhaft die Naht eines lachsfarbenen Rocks. „Na ja, so gut wie. Es ist doch Sommer“, entgegnet meine Mutter. Und zu Rita gewandt: „Du, bei dem hier scheint sich die Naht aufzulösen. Noch ein Grund mehr, dass wir in eine dieser Shopping-Malls fahren.“
Wenn das Wetter nicht mitspielt, dürften die beiden sogar gezwungen sein, sich in den Shopping-Malls mit ein paar warmen Pullis einzudecken. Habe ich ihnen nicht gesagt, dass San Francisco die niedrigste sommerliche Durchschnittstemperatur aller amerikanischen Städte außerhalb Alaskas hat? „Ihr könnt froh sein, dass ihr nur ein paar Tage in San Francisco verbringt, denn hier gilt das Zwiebelprinzip.“ Sie hatten mich nach allem gefragt: ob sie mit Traveller-Schecks zahlen können (ja), ob sie mit ihrem
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