Ein Jahr in San Francisco
Haustür.
Dieses erste Date hatten wir genau vor einer Woche. Nun also der zweite Streich, und ich warte im Schutze unseres Hauseingangs auf Nick. Endlich! Schon von weitem sehe ich ihn die Sutter Street heraufeilen. Den blauen Kapuzenpulli über den Kopf gezogen, bahnt er sich zwischen Regenschirmen und Pfützen seinen Weg. „Hey, schön dich zu sehen“, sagt er und drückt mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Unmittelbar steigt mir die Röte ins Gesicht, mir wird ganz warm in meinem leichten Mantel. „Auf nach Chinatown “, schlage ich schnell vor und lächle Nick verlegen an.
In San Francisco leben über 80 000 Chinesen beziehungsweise Asian Americans . Chinatown ist eine der weltweit größten chinesischen Gemeinden außerhalb Asiens. Seit Anfang Februar bereitet sich nun die gesamte chinesische Enklave auf das Neujahrsfest vor. Die fernöstliche Miniwelt in San Francisco betritt man an der Ecke Bush und Grant Avenue durch ein großes, mit grünen Ziegeln und Drachenfiguren dekoriertes Tor, das Dragon Gate . Hinter diesem Tor erstreckt sich über 24 Blocks das ganze Spektrum chinesischer Lebensart: Bei schönem Wetter kann man am Portsmouth Square chinesische Damen dabei beobachten, wie sie ihren Tai-Chi-Übungen nachgehen, sich um die karg bepflanzten Blumenkübel versammeln und konzentriert Arme und Beine dehnen. Währenddessen spielen die Herren Schach und diskutieren. Entlang der touristischen Hauptstraße von Chinatown , der Grant Avenue, stehen die Shop-Besitzer vor ihren Läden und preisen rote Minidrachen, bunteGlaskugeln oder kitschige Vasen an. Über einigen Läden befinden sich sogar chinesische Tempel in den oberen Wohngeschossen. Und trotz des täglichen Touristenansturms hat das Viertel seine Authentizität behalten und zieht seit dem Goldrausch chinesische Einwanderer an.
Es schüttet in Strömen, und meine Frisur, an der ich stundenlang vor dem Spiegel herumgebastelt habe, ist innerhalb von fünf Minuten hinüber. „Ein Sauwetter haben sich die Chinesen für ihre Parade ausgesucht“, stelle ich fest. „But you look great“, sagt er und grinst mich breit an. Das mit dem „great“ aussehen darf man selbstverständlich nicht glauben. Schließlich sind die Amerikaner meist sehr großzügig mit Komplimenten. Trotzdem freue ich mich. Nicht ohne Grund habe ich – neben einer aufwendigen Frisur – heute meine Sneakers im Schuhschrank stehen lassen und balanciere meine knapp 1,70 Meter und 65 Kilogramm auf Acht-Zentimeter-Absätzen durch die nassen Straßen. „In Chinatown wirkt es so, als ob sich alle Chinesen gleichzeitig auf die Straße gewagt haben, damit es so richtig schön wuselig eng wird“, stelle ich belustigt fest. Und Nick erzählt, dass es hier früher sogar noch dichter besiedelt gewesen sein muss und sich Teile von Chinatown nach dem Goldrausch zu einer exzessiven Opium- und Spielhölle entwickelten. „Schließlich erließ man einen Einwanderungsstopp, und es wurden so absurde Regelungen wie die Zopfsteuer erlassen. Zusätzlich trat ein Gesetz in Kraft, das den Chinesen verbot, in anderen Stadtteilen außerhalb von Chinatown zu leben.“ – „Eine Steuer auf die Haarzöpfe von Chinesen, meinst du?“, frage ich irritiert. „Ja, genau. Die Chinesen galten damals als ‚gelbe Gefahr‘, und sie wurden diskriminiert, was das Zeug hielt. Heute kann natürlich jeder leben, wo er möchte.“ Gott sei Dank durften die Chinesen bleiben, ich liebe die chinesische Küche. In den letzten Wochen ertappte ich mich manchmal dabei, wie ich nach Feierabend einengroßen Umweg nach Hause durch Chinatown machte, nur um einen Mooncake in der Golden Gate Bakery zu kaufen und dann anschließend genüsslich kauend vorbei an den bunt geschmückten Schaufenstern nach Hause zu marschieren. Die Teigtörtchen mit einer Füllung aus Lotusblumenpaste und einem Eidotter in der Mitte gibt es dort in allen Geschmacksvarianten. Und es kommt immer wieder zu langen Warteschlangen vor der chinesischen Bäckerei. Einen ähnlichen Andrang erlebt auch die Golden Gate Fortune Cookie Factory , in der angeblich die knusprig-süßen Glückskekse erfunden wurden – von einer japanischen Familie! Pro Stunde falten dort die Bäckerdamen um die tausend vielversprechenden Botschaften und verstauen sie in den kleinen Teigtaschen.
Wenig später treffen wir auf Mari Carmen und Rose. Rose hatten Mari Carmen und ich während eines Networking-Events der Gruppe Language Lovers kennengelernt. Mari Carmen und ich wollten
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