Ein Jahr in San Francisco
unser Englisch aufbessern und Rose ihr Spanisch.
Neben der zierlichen, kleinen Rose wirkt die schlaksige Mari Carmen beinahe wie ein Riese. Freudestrahlend winkt Rose uns entgegen, ihr schwarzes Haar, das sie normalerweise immer offen trägt, komplett unter einer weißen Wollmütze versteckt. „Cool, dass ihr gekommen seid. Bereit für den Drachen?“, fragt Rose. Ein bisschen nervös stelle ich alle einander vor, und Mari Carmen kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, als ihr Blick auf meine Schuhe fällt. Bisher hatte sie mich immer nur in Turnschuhen gesehen. Und als Nick gerade mit Rose spricht, umarmt mich Mari Carmen und flüstert mir ins Ohr: „Hey, süßer Typ! Hat der einen Bruder?“ Ich muss losprusten, schiebe sie von mir weg. Im selben Moment rempelt mich ein Passant an, ich stolpere und lande mit meinem Absatz in einem Gullideckel. Verdammt! Vorsichtig ziehe ich den Schuh heraus, der Absatzist lädiert. „Toll, dann kann ich mir gleich neue Schuhe kaufen“, schimpfe ich und komme mir vor Nick wie ein Trottel vor. „Oh, nein! Sorry“, entschuldigt sich Mari Carmen schnell. „Wer will neue Schuhe?“, fragt Rose skeptisch. „Guck doch“, klage ich und strecke ihr meinen Fuß hin. „Ach, der ist doch nur angekratzt“, entgegnet Rose. „Warte auf jeden Fall ein paar Wochen mit dem Neukauf“, empfiehlt sie. „Wieso denn das?“ – „Keine Schuhe nach dem Neujahrsfest! Das chinesische Wort für Schuhe ist der Bedeutung von Unglück sehr ähnlich. Das wollen wir in den ersten Tagen des neuen Jahres auf jeden Fall vermeiden.“ – „Mal sehen“, sage ich nur verlegen, unglücklich darüber, dass meine Tölpelei so viel Aufmerksamkeit erhalten hat. Inzwischen ziehen geschmückte Wagen an uns vorbei, junge Mädchen stehen darauf, gehüllt in bunte, lange, glänzende Gewänder, und sie winken freundlich. Die nächste Attraktion: eine im Stechschritt herannahende Musikkapelle von jungen chinesischen Männern. „Das Beste des ganzen Umzugs ist das Ende. Dann kommt der große Drache. Er bringt Glück für das neue Jahr“, schwärmt Rose. „Er wird begleitet von Tausenden von Böllern und Feuerwerken. Das vertreibt die bösen Geister.“ Gebannt sehe ich auf den Umzug. Auf den nassen Straßen spiegeln sich die Muster und Farben der Neujahrskostüme in den Pfützen. „Welches Jahr soll denn jetzt beginnen?“, fragt Nick und versucht, den Small Talk mit meinen Freundinnen anzukurbeln. „Das Jahr des Hasen. Unser Neujahrskalender richtet sich nach dem Mondkalender. Wir läuten das neue Jahr immer zwischen dem 20. Januar und 21. Februar ein.“
Doch noch während sie spricht, werden wir abgelenkt. Laute Knaller prasseln vor unserer Nase auf die feuchte Straße, und der Geruch von Feuer und verkokeltem Papier steigt auf. Der tiefschwarze Nachthimmel verschwindet hinter einer dichten, rußigen Rauchwand. Erwartungsvoll starrenwir auf die rot schimmernde Gestalt, die aus der Ferne auf uns zuschreitet. Die Zuschauer drücken sich enger an uns heran, um besser sehen zu können. Wenige Sekunden später ist es so weit. Auf unzähligen Menschenbeinen getragen wird der Drachenkörper, begleitet von ohrenbetäubenden Böllern. Viel beeindruckender noch, als ich es mir je erträumt hätte, marschiert das riesige Tier wie ein übergroßer Tausendfüßler auf uns zu. Musik und Böller vermischen sich zu einem impulsiven Geräuschcocktail. Das über achtzehn Meter lange, funkelnde Fabelwesen zieht seine Bahn durch die nass-graue Abenddämmerung und tanzt nun direkt vor uns. „Schau, er hat riesige Augen, und sein Mund ist so weit geöffnet, dass man jeden einzelnen Zahn sehen kann.“ Rose ist begeistert. Ein Teil des Drachenschwanzes streift meine Wange. Rose streckt die Hand aus, um den Drachen zu berühren. „Das bringt Glück!“, ruft sie. Ich fühle mich wie betäubt von meinem ersten chinesischen Neujahrsfest. „Kung hei fat choi“, was so viel bedeutet wie „Viel Erfolg und Reichtum“, ruft Rose plötzlich und schlingt ihre Arme um meinen Hals.
Bin ich in China oder in Amerika? In diesem Moment verschwimmen die zwei Welten vor mir. Aber vielleicht ist es auch genau das, was San Francisco ausmacht: dass man jeden Tag und mit jedem Stadtviertel in eine andere Kultur und in ein anderes Land eintauchen kann. Beinahe fühlt die Stadt sich so an wie eine geheimnisvolle bunte Schatztruhe, in die ich nur meine Hand zu strecken brauche, um die unterschiedlichsten Kostbarkeiten ans Licht zu
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