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Ein Jahr in Stockholm

Titel: Ein Jahr in Stockholm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Beer
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Optik passt, ist die Nase. Die Nicht-Nase. Nicht der kleinste Ansatz davon. Zwei große Löcher. Obwohl es uns peinlich ist, darauf zu starren, können Caro und ich es einfach nicht lassen. Linnéa bemerkt davon nichts, überhaupt bemerkt sie selten etwas. Sie spricht paradoxerweise sehr nasal und atmet so schwer wie ein Mops.
    Das ist der Eindruck, den ich von unserer neuen Mitbewohnerin gewinne. Was darauf folgen soll, ist weniger drollig.
    Als ich eines Abends von meinem Sprachkurs in die Skeppargatan zurückkehre, lande ich mitten in Linnéas Einweihungsfete, zu der sie Caro und mich natürlich eingeladen hatte, wie sie beteuert. Spätestens jetzt müsste ihr eine Pinocchio-Nase wachsen – aber nichts! Am Kühlschrank kippt sich ein Mann, der seinen Körper zumindest noch in einen Björn-Borg- Schlüpfer hüllt, die Reste aus meiner Milchbox in den Rachen. Die Partygesellschaft rund um den Tisch und auf dem Balkon tut so, als würde sie mich nicht sehen. Dafür knutschen zwei Halbwüchsige in meinem Bett.
    „Zu viel snus “, entgegnet der Mann am Kühlschrank auf meinen irritierten Blick und deutet erst auf sich und dann auf den mit Tabakpäckchen übersäten Küchenboden.
    Dieses Laster kenne ich leider von Lars zur Genüge: So ziemlich jeder Schwede klemmt sich mehr oder weniger regelmäßig die salzigen Säckchen unter die Oberlippe. Sobald das Nikotin ins Blut gewandert ist, wird der Kautabak auf die Gehwege gespuckt, um in der sonst klinisch reinen Stadt die Gullydeckel zu verstopfen. Auch in der WG wird kräftig gespuckt – und das nicht nur auf den Fußboden. Ein sehr junger Mann hängt mit sehr grünem Gesicht über der Klobrille. „Kümmer dich nicht um ihn“, versucht mich der Milchtrinker zu beruhigen. „Ich bin Måns, Linnéas Lover und by the way Musikproduzent in London. Und der da hatte grad sein erstes Mal.“ – „Hier? Sein erstes Mal??“ Ich bin starr vor Schreck. „Mit snus , meine ich. Mann, ta det lugnt! “

    Ein Pfiff in der Ferne bringt mich langsam zurück in die Realität, mehr noch: etwas Nasses am Ohr. Eine kräftige, ausgeprägte Labrador-Nase. Vor meiner Parkbank steht Attila mit vielen Hunden und wenigen Menschen zum Abmarsch bereit. Ich grinse, richte mich auf und fühle mich grandios erholt, wie nach einer anstrengenden Yoga-Stunde mit Tiefenentspannung.Ich höre und sehe Linnéa eine ganze Weile nicht mehr. Das Leben spielt sich komplett außerhalb der Wohnungen ab. Wir treffen uns zum Theater im Tantolundenpark, zum Kino und indiegympa auf den Flachdächern von Norrmalm, zum Boxsport auf den Terrassen der Cafés und zum Kaffee direkt am Wasser. Vollständig dunkel wird es bereits seit Monatsbeginn nicht mehr. Momentan dämmert es maximal eine Stunde vor sich hin. Doch wenn Caro, ihr Freund Marcel, der zu Besuch ist, Lars und ich nachts von den Kneipen zur Wohnung schlendern, ist es längst taghell. Diese Weißen Nächte sind ein grandioses Erlebnis, Stimmungsaufheller und schöner Luxus. Dennoch kann ich mich nie ganz an sie gewöhnen, und wenn ich bei offenem Fenster schlafe, ist es wegen der frühen Beleuchtung bald vorbei mit der REM-Phase.
    „Habt ihr schon Pläne?“, wirft Lars eines Tages in die Runde. Es dauert, bis wir kapieren, dass von Mittsommer die Rede ist. „Was schlägst du vor?“, frage ich zurück. Bislang hatte er mir nur erzählt, dass es zu diesem Fest im flirrenden Sonnenschein immer wieder kurz geregnet hat – sonst wäre es eben kein echter schwedischer Sommer. Der dauert im Volksmund von Mitte Juni bis Mitte Juli. In diesem Jahr hat der Sommer freundlicherweise ein paar Wochen früher Einzug gehalten. Bei konstanten 27 Grad, leichtem Wind und wolkenlosem Himmel kann sich nun wirklich niemand beklagen.
    „Kommt mit zu meiner Familie aufs Land und werdet endlich richtige Schweden“, entgegnet Lars. Das ist doch mal eine Idee. Ich bin dabei, aber Caro und Marcel sind unschlüssig, ob sie damit gegenüber der Verwandtschaft nicht zu aufdringlich wirken. In Schweden heißt es bei jeder Art von Familienfesten oft: Geschlossene Gesellschaft. Auch der neue Freund und die neue Freundin werden den Eltern häufig erst dann vorgestellt, wenn es sich gar nicht mehr vermeiden lässt. Die bekannte offene Gesellschaft existiert zwarselbst nach den Morden an hochrangigen Politikern weiter. Am Wochenende nach getaner Arbeit bleibt man aber einfach gerne unter sich. Um neue Leute kennenzulernen, muss der Fremde hier deshalb mehr Ausdauer an den Tag legen

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