Ein Jahr in Stockholm
als anderswo in Europa.
Lars würde dieser Erfahrung wohl kaum zustimmen. Auch diesmal sagt er: „Ach, Unsinn. Mittsommer ist für alle da, und auch wir feiern mit allerhand Freunden und Nachbarn. Je mehr, desto besser. Also, abgemacht?“
Eine Woche später sitzen wir zu viert in Lars’ Golf und drängeln uns mit den meisten anderen Stockholmern über die ersten Kilometer auf der E:4. Ein bisschen komme ich mir vor wie bei einer Massenevakuierung vor einem nahenden Tornado oder einer Flutwelle. Weil wir aber in Schweden sind, verliert keiner die Nerven oder tanzt aus der Reihe. Es geht derart langsam voran, dass Caro vorschlägt, wir sollten es zu Fuß versuchen. Doch ein alter Schwede wie Lars zuckt bei solcher Rastlosigkeit nur verständnislos mit den Schultern. Er kennt das Spielchen, wenn sich Mitte Juni alle für einen mehrwöchigen Sommerurlaub aus der Stadt verabschieden und sich zur Familien- stuga begeben. Er streicht über das Steuer und wartet lässig, bis sich wenige Kilometer weiter draußen der Stau auflöst, wie er es vorhergesagt hat. Grund genug, ihm auch zu glauben, dass seine Familienmitglieder die allerliebsten Menschen sind und sich darauf freuen, Deutsche das Feiern zu lehren. Um ihnen dabei behilflich zu sein, haben wir zwei Kästen Paulaner und mehrere Flaschen Holunderschnaps geladen.
Ich bin seltsamerweise nicht im Geringsten nervös, Lars’ Familie kennenzulernen. Und ich habe viel Zeit, mich an den Gedanken zu gewöhnen, denn Lars fährt dermaßen einschläfernd, dass Caro, Marcel und ich am Straßenrand locker ein paar archäologische Grabungen durchführen könnten. Doch wir trösten uns mit der verlängerten Vorfreude aufMittsommer, dem Fest, das in der schwedischen Wichtigkeitsskala gleich hinter Weihnachten rangiert – bei uns sogar noch davor. Heute ist midsommarafton , der Vorabend des eigentlichen Mittsommertages, an dem bereits die große Fete steigt und der stets auf einen Freitag zwischen dem 20. und 26. Juni fällt, wenn die Tage am längsten sind.
In der Hofeinfahrt vor einem weißen Holzhaus mit prächtigem Treppenaufgang und solarzellenbedecktem Dach stehen schon ein Dutzend Wagen und zwei überaus dicke Männer. Einer von beiden in knallengen Jeans und viel zu langen, über dem buddhaförmigen Oberkörper labbernden Hosenträgern stürmt im Galopp auf mich zu und drückt mich so fest, dass mir kurz die Luft wegbleibt. Ich mutmaße, dass er mich mit Lars’ Exfreundin verwechselt. Doch dann sagt er, ich sei eine sagenhafte Verbesserung im Vergleich zur alten, und Lars fragt pikiert nach, was denn Onkel Bertil an diesem Tag schon alles getrunken hat.
Drinnen stellt Lars uns Deutschen seine Familie vor. Da wären also Mutter Elisabet, Vater Johan, Bruder Stig und Schwester Malin. Auf der Veranda treffe ich als Erstes wieder Bertil, daneben Tante Elsa, Onkel Paul, Tante Ingegerd, die Cousins John, Kjell und Liam sowie die Nachbarn Barbro und Totte und die Freundinnen der Cousins, Lina, Lena und Helena. Leider hört sich das auf Schwedisch noch viel unübersichtlicher an. Beim Onkel wird feinsäuberlich unterschieden zwischen farbror , dem Bruder des Vaters, und morbror , dem Bruder der Mutter, wie es bei Bertil der Fall ist. Haben die Eltern Schwestern, heißen sie moster oder faster . Entsprechend ist morfar der Großvater mütterlicherseits, farfar der Vater des Vaters. Die herzliche Urgroßmama Alva, die in der Küche Kartoffeln kocht, ist die gammelmormor , wörtlich die alte Mutter der Mutter. Ihre Tochter ist Oma Margareta, von der Lars wiederum das barnbarn ist, das Kindeskind, alsoder Enkel. Und da Tante Elsa in die Ehe mit Onkel Bertil den kleinen Freddy mitgebracht hat, ist der Bertils Stiefsohn, den die Schweden aber etwas liebevoller als bonusbarn bezeichnen, als ein Bonuskind, auf das Bertil unbändig stolz ist. Freddy sieht ihm sogar ein bisschen ähnlich, finde ich.
Im Garten ist die schwedische Flagge gehisst. Auch an dieses Bild haben wir uns während der Autofahrt gewöhnt. Lars’ Eltern diskutieren mit sich überschlagenden Stimmen, ob sie das gelbe Stück Stoff mit blauem Kreuz entsprechend der allgemeinen Empfehlung bis 20.30 Uhr einholen wollen. So viel Temperament bin ich von den Schweden gar nicht gewöhnt. Allerdings wähnen sie sich hier und heute wohl auch eher unter sich. Oder Mittsommer wird als wichtig genug eingestuft, seinen Emotionen mal richtig freien Lauf zu lassen.
„Das machen sie jedes Jahr“, erklärt Lars. „Da es ohnehin
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