Ein Jahr in Stockholm
Großstadt mit ihren hohen Häusern und kleinen Wohnungen. Oj, oj, oj! Ich brauche erst sechs Wochen Schlaf und meine Ruhe weit draußen in der Natur, bevor ich wieder Menschen ertragen kann.“
Diesen Drang nach Einsamkeit, den auch Lars in den Genen trägt, werde ich nie richtig nachempfinden können. Ich verstehe einfach nicht, wie sie Stockholm wochenlang den Rücken kehren können – dann, wenn sie der Stadt einmal die Aufmerksamkeit schenken könnten, die ihr zusteht.
Auch Caro bringt keine frohe Kunde. Die Deutsche Zentrale für Tourismus schickt sie auf Studienreise nach Deutschland. Unter dem Motto „Deutschland. Das Autoland“ soll sie schwedische Journalisten nicht nur von der Wirtschaftskraft,sondern auch von der Pracht des großen südlichen Nachbarn überzeugen. Sanne und die anderen Kollegen präsentieren derweil „Golf und kulinarische Bällchen im Norden“, „Bayerns Biergärten“, „Alte Schlösser – guter Wein“ sowie „Auf zum Oktoberfest“. Es bleibt also nichts unversucht, um einen glanzlosen Ruf aufzupolieren. Dennoch verzichte ich nicht gerne auf meine Mitbewohnerin im Stockholmer Sommer. Sie selbst, meine stärkste Verbündete gegen die Landflucht, wirkt nicht sonderlich bekümmert über den Zustand. Sie weiß, dass sie bei der Gelegenheit endlich ihren Freund wiedersehen wird.
Mein eigener ist während Caros Worten beunruhigend ruhig geworden. Lars hat ein schlechtes Gewissen, was ich daran erkenne, dass er Qimmiq geistesabwesend Zöpfe ins Fell flicht. Das Tier schiebt sich derweil immer näher an seine Lachsspieße heran. „Hast du was?“, frage ich ihn. Seine anfängliche Konfliktscheue ist einer Direktheit gewichen, wie ich sie von zu Hause kenne und die mich des Öfteren stutzen lässt. „Ich habe eine schlechte, eine noch schlechtere und eine vergleichsweise gute Nachricht.“ Mir bleibt offenbar nichts anderes mehr, als die Reihenfolge zu bestimmen, in der er mir die Laune verdirbt.
Die schlechtere der beiden schlechten Botschaften: In Lars’ Firma in Stockholm ist bis zum Herbst tote Hose, weshalb er in zwei Wochen für ein Bauprojekt nach London fliegen wird und nach Abschluss kurzzeitig im Hamburger Büro arbeiten soll. Ich denke, ich höre nicht recht. Meinen ersten Geburtstag als Stockholmerin werde ich also allein feiern können.
Nicht ganz so schlimm, aber dennoch schmerzhaft: Lars muss zum Monatswechsel seine wunderbare Altbauwohnung räumen, weil der Eigentümer darin mit seiner Affäre ein Liebesnest einrichten will, wie er ihm unverblümt gesteckt hat. Mein Glaube, Schweden seien solide edle Ritter, wurde inletzter Zeit kräftig erschüttert. Um die Erzählungen von Freundinnen und Bekannten zusammenzufassen: Wo man hinguckt, gehen Hintertürchen auf und zu.
Und die vergleichsweise gute Nachricht? Onkel Bertil hat sich angekündigt. Lars hatte überlegt, für die Zeit vor England zu mir zu ziehen. So weit, so gut. Bertil würde es uns angesichts seiner Gastfreundschaft an Mittsommer aber übel nehmen, meint er, wenn wir ihn in ein Hotel abschieben würden. Toppen! Ich freue mich unbändig, dass mir der Onkel in den vorerst letzten Tagen mit Lars hilfreich zur Seite steht. Ach gut, aber was soll’s schon? Ta det lugnt!
Zur Feier des Tages wandern wir hinüber zum Mosebacke torg, dem Platz, den die Stockholmer kürzlich zum schönsten der Stadt gekürt haben. Wahrscheinlich gerade weil er unspektakulär ist. Kein Tamtam, kein Klimbim, kein übertriebenes Aufhebens um irgendwas. „Nur du und ich und die Stadt drumherum“, wie Lars seine Vorstellung vom perfekten Verweilen einmal in Worte gepackt hatte, während ich die Umgebung irritiert nach etwas Nennenswertem absuchte.
Der angrenzende Biergarten hingegen eröffnet uns in diesem Augenblick ein fabelhaftes Panorama. Ich besinne mich kurz auf August Strindbergs Roman Röda rummet („Das rote Zimmer“), der auf eben dieser Terrasse beginnt. Schon seit dreihundert Jahren versammeln sich hier allerhand Biertrinker, Kulturfreaks und Musikliebhaber, um sich über den Dächern der Stadt Kleinkünstlern oder Jazzmusikern zu widmen. Heute spielen vier Männer unter einer Lampionkette, die zwischen die Kastanien gespannt ist, eine irre Mischung aus Salsa, House und Balkan-Klängen. Wir versuchen ein paar freie Plätze auszumachen. Aussichtslos. Doch weiter hinten winkt wer am Kickertisch: ein Kumpel von Lars, der sich als Pelle vorstellt und zur Begrüßung eine Runde ausgibt.
Ich blicke hinüber auf die
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