Ein Jahr in Stockholm
meinen Bücherregalen verteilt, als er mit einer ausgebeulten Dose auf mich zukommt. „Ein Stück Schweden für meine liebe Einwanderin.“ Stolz reicht er mir die Konserve.
Bevor ich weiß, was ich darauf sagen soll, erkennt Lars das hellblaue Etikett mit der Aufschrift Kallax , und die friedliche Stimmung ist hinüber. Bertil hat mir surströmming mitgebracht, einen vergorenen Ostseehering, mit dessen Gestank er bereits Großteile der Familien Sällström/Albertsson kurzzeitig ausgeschaltet hatte. Sie fielen in Ohnmacht oder mussten sich übergeben, da Bertil heimlich einige Dosen aufgehebelt und sich ein unerträglich fauliges Gas verbreitet hatte. Nun bin ich dran, wie es scheint. Bertil besteht darauf, seine Delikatesse jetzt und hier bei mir zu öffnen. Lars verliert allmählich die Geduld mit seinem Onkel.
„Das Ding soll man nicht in Koffer quetschen, das weißt du genau!“
Wegen der Nachgärung bekommt die Dose ihreaufgeblähte Beulenfigur, und es besteht höchste Explosionsgefahr. Was in etwa los wäre, wenn so ein surströmming im Gepäckfach eines Flugzeuges aus den Nähten platzt, kann sich jeder vorstellen. Deshalb hat er keine Reiseerlaubnis. In Deutschland sind schon Mieter fristlos gekündigt worden, weil sie die eklige Tunke im Treppenhaus verteilt hatten. Die Schweden erzählen auch gerne, dass Vögel vor Schreck tot vom Himmel fallen. Vielleicht hat man in meinem Haus pünktlich zur surströmming -Premiere den Sicherheitscode geändert, zur Sicherheit eben. Aus Angst vor Anschlägen.
Unser Kompromiss sieht am Ende folgendermaßen aus: Bertil darf seine Dose öffnen, allerdings nur unter dem freien Himmel des Tessinparken zwei Straßen weiter. Lars und ich begleiten ihn hinüber, bleiben aber außerhalb der Gefahrenzone. Der Hering muss vollständig aufgegessen werden, Bertil darf uns jedoch nicht zwingen, ihm dabei zu helfen. Beilagen wie Tomaten und Mandelkartoffeln, die er sackweise im Koffer dabei hat, verspeisen alle gemeinsam im Anschluss in der WG.
So werden wir also Augenzeugen, wie Bertil unter einem blechernen Knall den Deckel von der Konserve reißt, sich kräftig mit Sud vollspritzt und sogleich ein undefinierbar schrecklicher Geruch die Gegend einnimmt. Dank Bertils Kleidung haftet der auch der Wohnung noch an, als Lars bereits einige Tage in London weilt und der Onkel längst wieder auf seinem Hof in der Provinz Unfug treibt.
Ich überlege währenddessen, was Stockholm ausmacht, den Platz in der Welt, der nicht zu meiner Heimat, aber doch zu einem geliebten Zuhause geworden ist. Selbst wenn ich mich noch manchmal fremd fühle: Nirgendwo sonst möchte ich den Alltag verbringen. Wie bloß kann ich dieses Gefühl in mir den Besuchermassen begreiflich machen, die mich in den kommenden Wochen im exotischen Skandinavienüberrollen werden und meinetwegen auf ihren Sommerurlaub in Andalusien, Griechenland und Florida verzichten? Ohne mich wären sie nie auf den Gedanken gekommen, hierher zu reisen, geschweige denn hier zu leben. Wo doch in Schweden immer Winter, Nacht oder Mückenplage herrsche – was ich nur so toll daran fände?
Bevor ich das analysiere, widme ich mich meiner momentanen Nummer eins unter Stockholms Attraktionen: dem rea . In meiner Anfangszeit hatte ich mich noch gewundert, was mir die gelben und orangefarbenen Schilder in der Stadt sagen wollten. Bis dahin war Rea für mich die Kurzform für Reanimation; mittlerweile ist mit klar, dass realisation Ausverkauf bedeutet. Und wenn ich weiter so exzessiv shoppe, dürfte die deutsche Rea bald die notwendige Folge des schwedischen rea darstellen.
In den Nilson -Läden habe ich einen Schuhtick entwickelt, angesichts der siebzig bis achtzig Prozent Preisnachlass nämlich, der sogenannten Schockpreise, in Kombination mit dem speziellen Design. Ich finde auf den ersten fünf Metern gleich beigefarbene Stiefel aus herrlich weichem Leder mit schwarzem Futter, die man je nach Bedarf bis zu den Knöcheln hinunterkrempeln kann. Langlebig, praktisch, was zum Schmunzeln.
Bestimmt fühle ich mich auch wegen des Schwedendesigns so besonders wohl. Überall erfreuen sich meine Augen an hellen Farben, klaren Formen, großen Fenstern, Möbeln aus Holz und Textilien mit Karos oder Blumenmustern. Hinter den Objekten stecken meistens soziale Ambitionen, sie sind kindersicher, umweltfreundlich und behindertengerecht. Zudem präsentiert schwedisches Design wieder die stille Übereinkunft des gesamten Volkes, das Ergebnis einer
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