Ein Jahr ohne Juli (German Edition)
Juli schlägt sonst nie vor – Betonung auf nie –, dass wir fernsehen; nicht, wenn sie Zeit hat, den Tag mit verrückten Sachen zu verbringen. Und überhaupt –
»Dann gehen wir doch nicht?«, frage ich.
»Wohin?«, fragt Juli zurück, ohne sich umzudrehen. Sie liest die Rückseite einer DVD. »Das hört sich doch gut an«, sagt sie. »Pass auf …«
»Zum Reiten«, sage ich.
Juli lässt die DVD auf den Boden fallen, dreht sich um und sieht mich an. Ihr Gesicht ist aschfahl geworden; ihre Augen sehen wie tiefe Brunnen aus, eingebettet in ein trauriges, müdes Gesicht. »Was?« , fragt sie.
»Reiten?«, wiederhole ich, diesmal etwas unsicher. Ich kann das Beben in meiner Stimme hören – vor was habe ich solche Angst? Was geht hier vor ? »Du hast doch gesagt, um zwei.«
Juli schüttelt langsam den Kopf. »Ich fasse es nicht, dass du das sagst, Jenny.«
»Ich bin – ich dachte, wir wollten zum Reiten«, stottere ich und versuche mich an der einzigen Tatsache festzuhalten, die ganz fest geplant war. »Du hast mich dazu überredet«, fahre ich fort. »Ich wollte nicht, aber du hast darauf bestanden, und ich war sicher, dass es lustig werden würde – mit dir zusammen. Wir hatten es doch geplant. Um zwei Uhr …« Meine Stimme verebbt und verstummt in der Stille des Wohnzimmers, wird verschluckt und erstirbt im Nichts.
Juli reibt sich die Augen. »Das ist mir zu viel. Wir haben alle zu viel durchgemacht. Es war kein leichter Entschluss für uns, hierherzukommen, verstehst du? Mach es bitte nicht noch schlimmer mit albernen Spielchen.«
Ich habe keine Ahnung, wovon sie redet. Ich habe nicht den leisesten Schimmer, was los ist. Ich weiß nur, dass ich allmählich wirklich keine Luft mehr bekomme.
Ich stehe wankend auf.
»Wo gehst du hin?«, fragt Juli.
»Ich – ich weiß nicht«, sage ich. Das scheint im Moment meine Standardantwort auf alles zu sein – aber ich habe keine bessere.
»Jenny, es tut mir leid«, sagt Juli. »Geh nicht weg. Komm, lass uns einfach abhängen und versuchen, zur Abwechslung mal normal zu sein. Es ist so lange her, dass wir richtig zusammen waren.«
»Was? Wir sind doch ständig zusammen.«
Wieder sieht mich Juli mit einem dieser Blicke an, und ich glaube, sie will gerade antworten, da ruft eine schwache Stimme aus einem der anderen Zimmer nach ihr.
»Tja, hab wohl keine Zeit mehr«, sagt Juli, steckt die DVD zurück in die Schublade und steht auf. »Komm mit.«
Ich will sagen: Wohin? , aber ich traue meiner eigenen Stimme nicht mehr, daher folge ich ihr in das Hinterzimmer.
Als Erstes fällt mir auf, wie dunkel es ist. Die Vorhänge sind zugezogen, und die Luft riecht abgestanden. Nicht ganz unangenehm, einfach nicht frisch und lebendig. Und nicht so, wie es sonst immer riecht, wenn man im Umkreis von Julis Familie ist. Abgesehen von dem teuren Parfüm ihrer Mutter riecht ihr Haus immer nach Farbe oder Räucherstäbchen – und nach frischer Luft. Egal zu welcher Jahreszeit, die Fenster sind immer offen, und das Haus wirkt stets so lebendig .
Ganz im Gegensatz zu jetzt.
Auf dem Boden steht ein Koffer. Es hat wohl noch keiner für nötig gehalten, ihn auszupacken. Die düstere Stille wirkt bedrückend. Ein ganz schreckliches Gefühl steigt in mir auf, das ich – wie alles hier – nicht erklären kann.
Dann bemerke ich Julis Mutter.
Sie sieht klein und verloren aus und sitzt in einem Lehnstuhl in der Ecke. Ihr Haar ist offen und unordentlich. Das ist es zwar oft, aber jetzt sieht es anders aus. Normalerweise hat es den Frisch-aus-dem-Bett-Look , für den man Stunden braucht, um ihn hinzukriegen. Diesmal ist sie wohl tatsächlich gerade aus dem Bett gekommen. Und sie trägt einen ausgeleierten Trainingsanzug. Sonst trägt sie nie andere Sachen als Designerklamotten oder schicke Jeans und mit Farbe verspritzte Blusen. Ihre Augen haben dunkle Ränder.
»Mrs Leonard, ich …« Was will ich eigentlich sagen? Ich glaube, dass ich vielleicht gerade den Verstand verliere. Können Sie mir helfen, ihn wiederzufinden?
Sie wendet mir das Gesicht zu, und ich sehe, dass ihr eine krakelige schwarze Linie über die Wange läuft.
»Mrs Leonard! Was ist los?«, frage ich.
»Was los ist?«, erwidert sie. »Was los ist, Jenny?« Dann wendet sie sich wieder ab und sagt nichts mehr.
Da dämmert es mir – das ist los: Wir gehen nicht zum Reiten, weil es Mrs Leonard schlecht geht und sie uns nicht fahren kann.
Ich drehe mich nach Juli um. »Weißt du, ich könnte
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