Ein Jahr ohne Juli (German Edition)
hat.
Ich öffne die Tür zu dem Zimmer, das ich mit Craig teile. Der Anblick der Jeans von unserem Dreckspatz und seine Berge von Autos und Baggern, die überall herumliegen, lässt mich erleichtert aufseufzen. Das hat sich wenigstens nicht geändert.
Das Geschrei kommt aus dem Schlafzimmer meiner Eltern.
Mein Herz schlägt lächerlich heftig in meiner Brust, als ich leise eintrete. In der hinteren Ecke steht ein Kinderbettchen. Bettzeug hängt über dem Gitter, und auf dem Boden daneben liegt mit dem Gesicht nach unten ein Teddy.
Ich hebe den Teddy auf und lege ihn in das Bettchen zurück. Ein winziges, rotgesichtiges Abbild von Craig als Baby mit nassen Wangen sieht mich aus leuchtend blauen Augen an und fängt zu strahlen an. Es ist, als ob die Sonne hinter einer schwarzen Wolke am Himmel hervorbricht. Der rosafarbene Strampelanzug, auf dem eine Fee appliziert ist, sagt mir, dass sich Mum mit ihrer Prognose, es würde ein Junge, getäuscht hat.
Ich lächle zurück und verliebe mich auf der Stelle in das kleine Wesen, das ja wohl meine Schwester ist. »Hallo, du«, sage ich, hebe das Baby, das zugegebenermaßen sehr auffällig riecht, aus dem warmen Bettchen und räuspere mich, um mein gerührtes Krächzen abzustellen.
Ich muss daran denken, wie Mum mich und Craig immer ihre zwei kleinen Engel genannt hat. Sie hat aber schon immer drei gewollt. Das macht ihrer Ansicht nach die perfekte Familie aus. Sie behauptet, deshalb hätten Autos vorne zwei und hinten drei Sitze. So sollte es sein, das sei ein Naturgesetz. Ich habe mich allerdings immer gefragt, ob Autodesign und Naturgesetze etwas miteinander zu tun haben können, wusste jedoch, dass diese Frage sinnlos war. Wenn Mum sich einmal auf etwas versteift hat, findet sie Millionen Argumente, die beweisen, dass sie recht hat.
Und jetzt hat sie also ihren dritten kleinen Engel.
Das Baby gluckst und sabbert sich über das Kinn. Ich gebe ihm einen Kuss auf die Stirn und atme seinen Babyduft ein.
»Du bist fraglos das Beste, was mir heute begegnet ist«, flüstere ich in das flaumige blonde Haar, das spärlich den kleinen Kopf bedeckt.
Ich halte das Baby fest an mich gedrückt und suche in dem Sack neben seinem Bett nach einer Windel. Dann lege ich die Kleine auf das Bett, kitzle sie, so dass sie lacht, und entferne die Ursache des Gestanks, säubere sie und lege ihr eine frische Windel an. Das habe ich früher auch ständig mit Craig gemacht. Ich war damals ungefähr sieben, aber es hat sich nichts geändert. Auch er hat mich mit großen Augen angesehen und die ganze Zeit gegluckst, während ich die Windel wechselte. Dann hat er die Ärmchen nach mir ausgestreckt, um hochgehoben zu werden, genau, wie es jetzt meine kleine Schwester macht.
Ich drücke sie an mich und küsse ihre runden kleinen Wangen und pruste darauf, damit sie noch mehr lacht, und zusammen gehen wir hinunter.
Dad ist es gelungen, das Wohnzimmer zu verwandeln, während ich oben war. Es sieht jetzt viel eher wie zum Haushalt der Greens gehörig aus. Es liegt nichts mehr auf dem Boden herum. Nirgends schmutziges Geschirr. Ordnung wiederhergestellt.
»Hallo, mein kleines Sonnenscheinchen«, sagt Dad zu dem Baby. Ich merke plötzlich, dass ich nicht mal weiß, wie sie heißt. Aber danach kann ich ja wohl eher nicht fragen. Äh, entschuldige, Dad, wie heißt meine kleine Schwester doch noch? Ist mir gerade entfallen; du weißt ja, wie das ist. Nein, unmöglich. Ich muss sie wohl auch erst mal Sonnenscheinchen nennen.
Sie streckt die kleinen Arme nach Dad aus. Er nimmt sie mir ab und gibt ihr dicke schmatzende Küsse auf den Hals, und sie gluckst so heftig, dass sie einen Schluckauf bekommt.
Ich sehe ihnen lächelnd zu, und zum ersten Mal, seit dieser Albtraum eingesetzt hat, bin ich fast glücklich, hier zu sein.
Dann sagt Dad etwas, das mir gleich wieder klarmacht, dass ich in dieser neuen Wirklichkeit nie wirklich glücklich sein werde.
»Wie geht es Juli und ihren Eltern? Alles in Ordnung?«
Wieder habe ich keine Ahnung, wie ich darauf reagieren soll. Na ja, du weißt ja – der Vater ist betrunken, die Mutter wie ein Zombie, Juli wie ein Geist ihrer selbst, und Mikey liegt im Koma. Alles bestens!
Zum Glück muss ich nicht antworten, denn die Haustür fliegt auf, und aus der Diele kommt Lärm.
»Puh, gerade noch zur rechten Zeit, was?« Dad zwinkert mir zu. »Bitte sag nichts, was deine Mutter aufregen könnte, okay?«
Was Mum aufregen könnte? Warum sollte ich?
»Wir sind wieder
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