Ein Jahr ohne Juli (German Edition)
enttäuscht auszusehen. »Ach, wie gut!«, sagt sie. »Dann hast du also doch einen Fehler gemacht!«
Sie sagt das wie eine Feststellung, aber so, wie sie mich ansieht, kommt es mir wie eine Frage vor, eine Herausforderung – ein Test. Was ist die richtige Antwort?
Etwas in meinem Magen schlägt Purzelbäume. Kann ich ihr wirklich erzählen, was los ist? Ich kenne die Frau ja gar nicht. Wie komme ich darauf, dass sie mir helfen kann? Nur, weil sie gesagt hat, dass sie sich immer allein vorgekommen ist? Damit hätte sie doch alles Mögliche meinen können. Warum um Himmels willen habe ich mir eingebildet, sie könnte meinen, dass alles um sie herum plötzlich ein Jahr übersprungen und sie zurückgelassen hat? Wie verrückt würde das klingen, wenn ich es laut sagen würde!
»Die Dinge haben sich verändert«, sage ich vorsichtig und suche in ihrem Gesicht nach einer Reaktion.
»Das kommt vor, weißt du. Das Leben geht weiter. Die Dinge ändern sich eben«, antwortet Mrs Smith genauso vorsichtig. Sie presst die Lippen zusammen. »Leute geraten in Vergessenheit«, setzt sie hinzu, und ihre Stimme klingt wieder schärfer.
»Nein, das meine ich nicht. Ich meine, die Dinge haben sich total verändert. Und ich auch. Ich bin nicht mehr die, die ich war. Oder die ich bin, aber –«
»Du redest wieder in Rätseln, Kind«, sagt Mrs Smith. »Spuck’s doch aus – was willst du mir sagen?«
»Alles ist auf einmal älter, als ich es in Erinnerung habe!«, platze ich heraus, ehe ich es verhindern kann. »Und ich genauso! Alles –« Ich breche ab und hole Luft. »Alles ist weitergegangen. Alles ist anders. Ich habe ein Jahr meines Lebens verloren und weiß nicht, wo es abgeblieben ist!«
Mrs Smith sieht aus wie vom Donner gerührt. Sie saugt ihre Wangen ein, die ganz weiß geworden sind, und ihre Augen sind dunkel und hohl. »Du weißt was nicht?«, fragt sie mit zitternder Stimme.
»Ich – ich weiß nicht, was in dem ganzen vergangenen Jahr passiert ist«, wiederhole ich, weniger sicher. Und dann begreife ich ihren Blick. Sie sieht mich an, als ob ich verrückt bin. Sie hält mich für eine total und komplett Wahnsinnige, die man nicht allein herumlaufen lassen sollte.
Sie steht auf und macht ein paar Schritte vom Tisch weg. Das war’s – sie ruft jemanden, der mich mitnehmen soll. Sie hält mich womöglich für gefährlich.
Ich bin ja auch blöd! Nur weil eine einsame Frau mir gestanden hat, dass sie sich immer ein bisschen verloren vorgekommen ist, beschließe ich, ihr an ihrem Küchentisch mein Herz auszuschütten, so dass sie mich für total plemplem und unzurechnungsfähig hält. Ich muss die Situation schnell retten, ehe sie die Polizei ruft und jemanden kommen lässt, der mich hinter Schloss und Riegel bringt.
Ich versuche zu lächeln. »Hey – ich habe nur einen Scherz gemacht«, sage ich. »Ha-ha. Ein dummer Scherz. Also wirklich, ich habe natürlich kein Jahr meines Lebens verloren! Ha-ha, nur so ein kleiner Scherz.«
Mrs Smith hält sich an ihrer Stuhllehne fest. »Du hast das gar nicht ernst gemeint?«, flüstert sie. Ihre Worte sind so angespannt wie ein straff gezogenes Seil, das jeden Moment reißen kann. »Einen Scherz gemacht?«
Ich versuche wieder zu lächeln. Ich weiß, dass ich wahrscheinlich immer mehr wie ein verblödeter Idiot aussehe, aber aus meinem eigenen Mund das alles zu hören – es war verrückt, das alles laut auszusprechen! Und auch noch zu einer wildfremden Frau! Was habe ich mir nur gedacht ?
Ich muss hier raus. Ich stehe behutsam auf und schiebe meinen Stuhl unter den Tisch.
»Hören Sie, es tut mir echt leid«, sage ich. »Es war nicht ernst gemeint. Eine – eine Wette. Ein Spiel. Es tut mir leid. Es stimmt nicht. Entschuldigung.«
Sie nickt. Sie umfasst ihre Stuhllehne noch fester. Sie ist wütend auf mich, dass ich ihr diesen Streich gespielt habe, und das überrascht mich nicht.
»Dann geh ich mal«, sage ich und bewege mich rückwärts auf die Tür zu. »Es tut mir wirklich leid«, wiederhole ich.
»Eine Wette«, sagt sie mit zitternder Stimme.
»Genau. Entschuldigung. So ein Kinderstreich, wissen Sie …?«
»Sicher.«
»Es tut mir leid«, stammle ich ein letztes Mal. Und dann, ehe sie noch etwas sagen – oder womöglich zum Telefon greifen kann –, reiße ich die Tür auf und mache mich schleunigst aus dem Staub.
In meinem Kopf herrscht ein einziges Durcheinander, als ich zu den Aufzügen komme. Ich drücke auf den Knopf. Ich kann es
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