Ein Jahr ohne Juli (German Edition)
hergekommen?«
»Nie. Zumindest nicht bis zum letzten Jahr, als du mich gesehen hast.«
»Letztes Jahr? Sie meinen, gestern?«, sage ich ohne nachzudenken.
»Daran muss man sich erst gewöhnen, nicht?«, sagt sie leise.
»Und warum sind Sie überhaupt zurückgekommen?«
Sie schweigt.
»Um nach ihm zu suchen?«, frage ich.
»Du denkst bestimmt, ich bin eine alte Närrin. So verrückt, wie meine Eltern damals auch glaubten.«
»Bestimmt nicht. Versprochen.«
»Weißt du was, Jenny? Du bist die erste Person in meinem ganzen Leben, der ich von dieser Geschichte erzählt habe. Ist dir das klar?«
Ich versuche mir vorzustellen, wie es ist, so ein Geheimnis ein ganzes Leben lang für sich zu behalten. Ich stelle mir vor, dass es so ist, als würde man ständig eine Maske vor dem Gesicht tragen, die jedermann für dein wahres Ich hält. Man selbst wäre die einzige Person, die wüsste, dass es eine Maske ist – und die wüsste, dass sie diese niemals ablegen könnte.
»Das tut mir leid«, sage ich schließlich. Ich weiß nicht, was ich sonst sagen soll.
»Wir haben als Kinder so eine Idee gehabt«, sagt sie und starrt wieder aus dem Fenster. »Haben damit ständig herumgealbert. Wir kommen wieder her, wenn wir fünfzig sind, sagte er immer. Wir kaufen das Hotel und leiten es gemeinsam. Dann sind wir doch längst verheiratet, sagte ich, und dann hat er mich mit Gras beworfen. Ich habe es aber nie vergessen. Das ganze Leben nicht. Also – natürlich habe ich weitergelebt. Er ist nicht meine einzige Liebe geblieben. Aber er war die erste – und tiefste –, und mein Herz hat den Winkel, der für ihn reserviert war, in all den Jahren niemals aufgegeben. Deshalb.«
»Deshalb was?«
»Bin ich hergekommen, als ich fünfzig war! Da hast du es. Dumme alte Närrin, wie ich schon sagte. Als ob er auch hier sein würde. Als ob er sich daran erinnern würde.« Sie schüttelt den Kopf und lacht. »Kannst du dir das vorstellen? Ich bin vor einem Jahr extra dafür Mitbesitzerin einer Ferienwohnung geworden. Und jetzt habe ich noch mal ein ganzes Jahr gebraucht, um das verdammte Ding wieder loszuwerden.«
»Loszuwerden?«
»Was bringt einer wie mir diese Ferienwohnung? Nein, inzwischen habe ich meinen Anteil verkauft. Habe natürlich einen Verlust hinnehmen müssen, aber der ist nichts gegen meinen anderen Verlust. Nach dieser Woche reise ich ab. Komme nie wieder her. Ich habe hier doch nichts mehr zu suchen. Hatte hier eigentlich nie was zu suchen. Das weiß ich jetzt.« Sie scheint weit in die Ferne zu blicken. »Weißt du, was ich gestern Abend gemacht habe?«, fragt sie mit betretenem Lächeln.
»Was?«
»Ich habe ihm einen Brief geschrieben. Das ist so ein Hokuspokus, zu dem mir meine Tochter rät, wenn ich mich über andere aufrege. Sie sagt, schreibe es in einem Brief auf, dann adressiere ihn, aber schicke ihn nicht ab. Sie meint, damit wird man die schlechten Gefühle los.«
Sie deutet auf einen Schreibblock am anderen Ende des Tisches. »Also habe ich einen Brief geschrieben. Nach den Regeln meiner Tochter sollte ich ihn vernichten. Mache ich später auch. Ich gehe hinunter ans Wehr und werfe das alberne Ding hinein. Verbanne diesen Mann endgültig aus meinem Kopf – und dann ist Schluss. Aus und vorbei.«
»Sie haben ihn nie vergessen«, sage ich leise.
Sie schüttelt den Kopf. »Bobby war die große Liebe, Jenny. Er für mich zumindest, selbst wenn das Gefühl nicht auf Gegenseitigkeit beruhte. Ein Gefühl, das alle anderen überstrahlt hat. Klingt wie aus einem schlechten Film, was?«
»Aber Sie haben doch dann einen anderen kennengelernt?«
»Ja. Ich habe geheiratet und bin fortgezogen. Später habe ich mich scheiden lassen. Denn es war eben doch kein Film, sondern die Wirklichkeit, und in der Wirklichkeit bekommt das Mädchen eben nicht immer ihren Jungen. Ich habe weitergemacht und mein Leben gelebt. Aber immer war da so ein Gefühl von – ich weiß nicht, von einer unabgeschlossenen Sache, könnte man wohl sagen. Ich war überzeugt, dass alles ganz anders hätte ausgehen können – und ich hatte den unstillbaren Wunsch, die Zeit noch einmal zurückzubekommen und sie in das Leben zu verwandeln, das ich eigentlich wollte.«
»In ein Leben, in dem Sie Bobby geheiratet hätten?«
Sie lächelt. »Ich habe den Namen damals überall hingekritzelt, in meine Schulhefte und so: Irene Barraclough. Ich fand, dass es sehr schön klang.«
»Barraclough?«
»Bobby Barraclough. So hieß er.«
Mir wird
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